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Mensch-Maschine

Belesene Technikgläubige suchen die literarischen Gedankenexperimente der 1950er Jahre in die Wirklichkeit umzusetzen. Wie weit sind sie schon? Und welchen Ausweg liefert die Literatur?

Mensch-Maschine
Sabine Haupt, photographiert von David Gagnebin-de Bons.

«Die Blinden sehen und die Lahmen gehen» (Mt. 11, 5) – was einst religiöses Heilsversprechen, ist heute technische Realität. Ja diese geht noch weiter: Taube hören, Armlose greifen – dank computergestützter Prothesen –, komplex vernetzte Computer sorgen für mehr Verkehrssicherheit, einen nachhaltigeren Umgang mit natürlichen Ressourcen oder bessere Krankheitsprävention. Schöne neue Welt also? So unproblematisch wie in den genannten Fällen ist das «Human enhancement», das technische «Verbessern» des menschlichen Körpers, nicht. Denn irgendwo im Verlauf dieser Entwicklung wird sich die Frage stellen: Wo endet der Mensch, wo beginnt die Maschine? Wird der Europäische Gerichtshof dereinst darüber entscheiden müssen, ob ein Cyborg, jenes aus der Science-Fiction bekannte Mischwesen aus Natur und Technik, noch über Menschenrechte verfügt? Oder umgekehrt: ab welchem Punkt der Perfektion wären einer selbständig und bewusst denkenden Maschine solche Menschenrechte zuzubilligen?

«Transhumanismus» nennt sich die Lehre, die den menschlichen Körper in technischen Dimensionen weiterdenken und formen will und damit dem klassischen Humanismus ans Leben geht. Wortwörtlich. Noch geht es bei den kritischen Fragen zum Transhumanismus nicht um das blanke Überleben der Menschheit, sondern nur um ethische, politische, ökonomische und soziale Fragen. Um künstliche Reproduktion, die Grenzen der Schönheitschirurgie, selbstfahrende Autos oder darum, ob Roboter als Babysitter für Alzheimerpatienten eingesetzt werden sollen. Womöglich sind diese Entwicklungen nur gewöhnungsbedürftig, ähnlich wie in vergangenen Jahrhunderten bei der Einführung der Eisenbahn, der Elektrifizierung und der Mobiltelefone. Vielleicht arrangiert man sich schon bald mit dem Gedanken, dass Maschinen uns Entscheidungen und Verantwortung abnehmen, dass Google-Glasses unser Sichtfeld kontrollieren, Google-Algorithmen unser Kaufverhalten steuern oder Google-Haushaltsgeräte uns ein genormtes Reinigungs- und Essverhalten diktieren. Nicht umsonst hat Alphabet Inc. (früher: Google Inc.) als eines der mächtigsten Unternehmen der Welt in den letzten Jahren ganz massiv in futurologische Robotertechnik investiert. Der Mensch gewöhnt sich an so vieles. Neugier war nie die einzige Triebkraft menschlichen Erfindertums. Bequemlichkeit und Geschäftssinn taten stets das Ihre. Der Traum vom gesunden und perfekten Menschen, von einem besseren, glücklicheren, unkomplizierten Leben, die Sehnsucht nach einer technikgestützten Regression in die quasi embryonale Rundumversorgung: was wäre legitimer? Was menschlicher?

 

Gedanken- und andere Experimente

Im Grunde ist Transhumanismus so alt wie die menschliche Phantasie. Dass Menschen ihre unmittelbare Wirklichkeit transzendieren, diese in Vorstellung und Denken – via Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft – entgrenzen, unterscheidet sie von anderen Lebewesen unseres Planeten. Schon die Mythen der Antike erzählen solche Transgressionen. Prometheus, Pygmalion und ihre zahlreichen Nachfolger betätigen sich früh als gottähnliche (Kunst-)Schöpfer. Die Weltliteratur kennt eine Fülle von Texten, in denen künstliche Wesen, meist sind es Automaten oder Statuen, durch Magie und Kunst, später auch durch phantastische Technik zum Leben erweckt werden. Politische Utopien wie philosophische Lehren befassen sich mit der Suche nach dem Glück und der Verbesserung der sozialen Lebensumstände. Ist der Transhumanismus also nur eine neue Variante dieses zutiefst menschlichen Strebens?

Die Szenarien des inzwischen zu einer weltweiten Bewegung herangewachsenen Transhumanismus gehen aber – und das ist nun Grund zur Besorgnis – über die eingangs genannten Fortschritte hinaus. Ihre Ambitionen zielen auf eine radikale technische Fortsetzung der Evolution. Der Mensch werde, so heisst es u.a. bei dem amerikanischen Futurologen Raymond Kurzweil – der vor drei Jahren von Google als Berater engagiert wurde –, demnächst von einer neuen Spezies abgelöst. Spätestens zur nächsten Jahrhundertwende werden, so Kurzweil, autonome, mit Willen, Bewusstsein und Emotionen ausgestattete «transhumane» Maschinen weltweit die Macht übernehmen. Fluchtpunkt der Entwicklung ist die sogenannte «Singularity», d.h. jener Moment, in dem sich die künstliche, global vernetzte, sich selbst programmierende Intelligenz endgültig der menschlichen Kontrolle entzieht. Kein menschliches Hirn ist in der Lage, sich die damit verbundenen Konsequenzen auch nur annähernd vorzustellen.

Absehen lässt sich aber schon heute, wie technische Entwicklungen sämtliche Lebensbereiche grundlegend verändern, darunter auch die Kultur, insbesondere die Schriftkultur. Werden, nachdem Textverarbeitungsprogramme und Datenbanken, E-Books, Online-Buchhandlungen und Print-on-Demand-Self-Publishing die «Gutenberg-Galaxis» bereits ins Schleudern gebracht haben, demnächst nicht nur Setzer, Korrektorinnen, Buchhändler und Verlegerinnen, sondern auch Journalisten und Schriftstellerinnen überflüssig und durch Algorithmen ersetzt, die Bestseller berechnen und deren Erfolg garantieren? Noch gibt es immense technische Probleme beim maschinellen Textverstehen. Doch wird auch das sich schon bald ändern? Und weiter gefragt: Werden sogar die Leser in Zukunft von Computern ersetzt, die in Nanosekunden ganze Weltbibliotheken scannen und nach den Vorgaben von Google-Algorithmen auswerten? Oder sind solche Ängste übertriebener Kulturpessimismus?

Gedankenexperimente sind nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Literatur unverzichtbar. Kein wissenschaftlicher Bereich wurde in der Science-Fiction so gründlich ausphantasiert wie das Verhältnis von Mensch und Maschine. Was die literarischen Zukunftsvisionen auszeichnet, ist ihr Pessimismus. Von den Mutanten und künstlichen Menschen der spätromantischen Phantastik bis zur SF des 20. Jahrhunderts gilt die Regel: Das Prinzip Hoffnung hat in der Literatur nichts zu suchen. Weder das «Monster» des Dr. «Frankenstein» aus Mary Shelleys gleichnamiger Novelle noch Stanisław Lems «Golem XIV» befördern Glück und Wohlstand des Menschen. Allenfalls vertiefen sie die narzisstische Kränkung, als Mensch nicht länger das Zentrum eines metaphysischen Schöpfungsplans zu sein. Selbst die in Michel Houellebecqs Roman «Les particules élémentaires» inszenierte humoristische bis zynische Variante einer friedlich aussterbenden und durch künstliche, asexuelle Klon-Wesen ersetzten Menschheit trägt, aller Ironie zum Trotz, deutlich pessimistische und dystopische Züge.

 

Superintelligenz

Die Manifeste des Trans- und Posthumanismus dagegen bewerten diese Entwicklung als positiv. Aus einer «distanzierten», nichtanthropozentrischen Perspektive betrachtet, seien, so referiert der schwedische Philosoph Nick Bostrom die zum Teil explizit «antihumanistischen» Visionen, alle (Lebe-)Wesen gleich, egal, ob es sich um Menschen, Tiere, Hybride oder künstliche Intelligenzen handle. Ausschlaggebendes Kriterium sei, dass auch die «neuen Individuen» ein «lebenswertes Leben» führten: «Je mehr glückliche Leben es gibt, desto besser.» Die möglichen Gefahren des Missbrauchs, der sozialen und politischen Manipulation, seien am besten abzuwehren, indem so schnell wie möglich eine gute, d.h. kompetente und wohlgesonnene «Superintelligenz» die Kontrolle über unseren Planeten übernehme. – Die politische Philosophie kennt diese seit Platon beschworene Utopie vom guten und gerechten (Allein-)Herrscher. Sie ist eine Schlüsselidee in der Geschichte des Totalitarismus.

Beim Entstehungsprozess einer Superintelligenz werden grundsätzlich zwei technische Verfahren für möglich gehalten: zum einen eine ultraperformative maschinelle Intelligenz, die aufgrund ihrer (z.B. durch Quantencomputer optimierten) enormen Rechenleistung und globalen Vernetzung den Sprung in eine Form von «bewusstem» Denken schafft, oder, zweite Möglichkeit, die exakte Emulation menschlicher Gehirne, welche sodann mittels Kybernetik und Neuroenhancement optimiert und zur Superintelligenz ausgebaut werden. Voraussetzung für das zweite Verfahren sind Forschungsprojekte wie das aktuelle, an der Lausanner EPF angesiedelte «Human Brain Project», bei dem es darum geht, eine computerbasierte Neurosimulation zu entwickeln.

Angeregt durch die Publikationen von Kybernetikern wie Norbert Wiener, John von Neumann, Gotthard Günther oder Heinz von Foerster begannen Science-Fiction-Autoren schon vor über 50 Jahren, über die Grenzen zwischen Mensch und Maschine zu spekulieren und dabei auch das Thema der Superintelligenz durchzuspielen. Es entstanden Romane und Erzählungen wie Isaac Asimovs «I, Robot» (1950), Ray Bradburys «The Veldt» (1951), Stanisław Lems «Dialogi» (1957) und «Cyberiada» (1965), David F. Galouyes «Simulacron 3» (1964), Philip K. Dicks «Do Androids Dream of Electric Sheep?» (1968, 1982 von Ridley Scott unter dem Titel «Blade Runner» verfilmt), Kurt Vonneguts «Breakfast of Champions» (1973), Douglas Adams’ «The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy» (1979) und William Gibsons «Neuromancer» (1984), um nur die Klassiker des Genres zu nennen. Die Reihe der Cyborg-Romane und Erzählungen, in denen der Untergang der menschlichen Zivilisation durch die Ankunft einer überlegenen künstlichen Intelligenz verursacht wird, reicht zwar bis in die Gegenwart, spielt in der Literatur inzwischen aber eine untergeordnete Rolle. Auf die Gründer der transhumanistischen Bewegung, allen voran Marvin Minsky, Hans Moravec oder Raymond Kurzweil, hatte die Science-Fiction der 1960er bis ’80er Jahre allerdings einen kaum zu unterschätzenden Einfluss. Die Pointe bei dieser transhumanistischen Aneignung von Science-Fiction ist jedoch, dass die dystopischen Aspekte, die alle erwähnten Werke aufweisen, dabei weitgehend ignoriert oder geleugnet werden.

An die Stelle der literarischen Science-Fiction ist das Kino getreten. Die seit Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey» (1968), in dem der Bordcomputer Hal die Macht über das Raumschiff übernimmt, gar nicht mehr abreissende Flut an Hollywood-Filmen, die davon erzählen, wie künstliche Intelligenzen zum Leben erweckt und in emotionale bis erotische Verstrickungen mit biologischen Menschen geraten, lässt sich kaum mehr überblicken. Filme wie Spike Jonzes «Her» (2013), Luc Bessons «Lucy» (2014), Wally Pfisters «Transcendence» (2014), Alex Garlands «Ex Machina» (2015) oder Neill Blomkamps «Chappie» (2015) inszenieren dabei oftmals verwirrend ambivalente Beziehungen zu digitalen Intelligenzen, deren Bewusstsein auch ohne materielle Grundlage, d.h. ohne Roboterkörper, funktioniert. Doch eine solche körperlose Existenz widerspricht den derzeitigen Erkenntnissen der Kognitionswissenschaften und deren These des «Embodiments», der zufolge ein Bewusstsein die Interaktion mit der räumlichen Umwelt und damit einen Körper benötigt. Dass sie dennoch so populär ist, zeigt einmal mehr, wie die Phantasie eines körperlosen, endlos reproduzierbaren und folglich ewigen Lebens offenbar nicht nur auf Puritaner und Asketen einen gewissen Reiz ausübt. Der religiöse Mythos von der unsterblichen Seele erhält hier seine technische Entsprechung: beim sogenannten «Uploading» oder «Upshifting», der Übertragung des menschlichen Gehirns auf einen maschinellen Datenträger, werden die neuronalen Inhalte wie Wissen, Gedächtnis, Psyche und Bewusstsein digital erfasst und kopiert, um nach dem Absterben der körperlichen Hülle in den virtuellen Weiten des Cyberspace herumzugeistern.

 

Das Gegenteil von Standard

Im Grunde handelt es sich beim «Uploading» um die konsequente Fortsetzung des Konzepts des rundum vermessenen und vernetzten Menschen. Mit geradezu religiöser Inbrunst verklären die Vertreter des Transhumanismus ihr Heilsversprechen einer unsterblichen, digitalen Existenz. Den Upload feiern sie als erlösenden Eintritt in die Totalität der globalen Superintelligenz. Völlig fraglich bleibt dabei allerdings, ob ein digital «gesichertes» Bewusstsein überhaupt seine persönliche Identität bewahrt und damit tatsächlich die versprochene virtuelle Unsterblichkeit gewährleistet oder ob bei der Übertragung nur eine Kopie von Inhalten und Strukturen entsteht. Denn niemand weiss – und damit wären wir beim alten Leib-Seele-Pro-blem angelangt –, ob die Grundprämisse des Upload-Verfahrens, die Annahme nämlich, dass Geist und Bewusstsein nicht etwa nur auf materiellen (biologisch-organischen oder künstlichen) Grundlagen beruhen, sondern mit diesen identisch sind, überhaupt zutrifft. Doch nur unter der Voraussetzung eines solchen materialistischen Monismus macht die Vorstellung, man könne einen Gehirninhalt kopieren und dabei auch das persönliche Bewusstsein übertragen, überhaupt Sinn.

Was aber bedeutet es, wenn derartige Entwicklungen heute nicht mehr, wie noch in den Szenarien der frühen Science-Fiction, in den Händen finsterer Mächte und wahnsinniger Erfinder liegen, sondern von «Global Players» wie Google & Co. vorangetrieben werden? Ist dem merkantilen Griff nach unseren Körpern und Gehirnen, der industriellen Aneignung und Patentierung von Leben – ausser in den Dystopien der Literatur – überhaupt noch etwas entgegenzusetzen? Wäre es womöglich sinnvoller, sich auf die positiven Aspekte der neuen Techniken zu konzentrieren? Ich denke, die Literatur hat hier eine ganz entscheidende Funktion – und das nicht nur als Lieferantin von pessimistischen Gedankenexperimenten. Im Gegensatz zur Literaturwissenschaft, die bei der Erschliessung, Archivierung und Bearbeitung grosser Textmengen durchaus von «Big Data» profitiert, hat die Literatur die Möglichkeit, als Gegenspielerin aufzutreten. Bestseller, die ohnehin nach Schema F gestrickt sind, können in Zukunft herzlich gerne auch von Textgeneratoren geschrieben werden, doch da, wo die Literatur sich als frei und kreativ, als regelwidrig und grenzüberschreitend definiert, muss sie um das Gegenteil von Standardisierung und algorithmischer Berechenbarkeit besorgt sein.

Gegen den Transhumanismus lässt sich ethisch, politisch, philosophisch und religiös argumentieren. Man kann das humanistische Menschenbild, die Demokratie, das unhintergehbare individuelle Bewusstsein oder die unsterbliche Seele ins Feld führen. Man kann aber auch einen ästhetischen Einspruch formulieren, kann sich gegen Uniformität, Regulierung und genormte Oberflächlichkeit wehren, kann dem Irregulären, Eruptiven, Zufälligen, Fragmentarischen, Unvorhersehbaren künstlerische Gestalt verleihen. Und diese Form von lebendiger, anarchischer Kreativität ist ein Mehr und etwas fundamental anderes als die Random-Funktion eines literarischen Algorithmus.


Weiterführende Literatur zum Thema «Transhumanismus»

 

Nick Bostrom: Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution. Berlin: Suhrkamp, 2014.

Luc Ferry: La révolution transhumaniste. Paris: Plon, 2016.

Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert. Berlin: Ullstein, 2015.

Oliver Krüger: Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus. Freiburg i. Br.: Rombach, 2004.

Murray Shanahan: The Technological Singularity. Cambridge: MIT Press, 2015.

Serge Tisseron: Le jour où mon robot m’aimera. Vers l’empathie artificielle. Paris: Albin Michel, 2015.

Thomas Wagner: Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell. Köln: PapyRossa, 2015.

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