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Diese wenigen Geräusche

Gefühl vom Ende einer Welt, ausserhalb der ich nicht mehr atmen könnte. * Nichts als ein Büschel blasser Veilchen, nichts als ein sehr kleines Mädchen… * Farben des Abends plötzlich wie Glasscheiben (oder Insektenflügel) einzig an jenem Abend an jenem Ort stummes Trugbild Weg geöffnet ins kristallklare Dunkel lichtes Fenster, als wäre da ein Wasserstreif, […]

Diese wenigen Geräusche
Philippe Jaccottet, photographiert von Ayse Yavas / KEYSTONE.

Gefühl vom Ende einer Welt, ausserhalb der ich nicht mehr atmen könnte.

*

Nichts als ein Büschel blasser Veilchen,

nichts als ein sehr kleines Mädchen…

*

Farben des Abends plötzlich wie Glasscheiben (oder Insektenflügel) einzig an jenem Abend an jenem Ort

stummes Trugbild

Weg geöffnet ins kristallklare Dunkel
lichtes Fenster, als wäre da ein Wasserstreif, eine dünne
Schicht reinen Wassers
über der ganzen Landschaft, den Wiesen, Hecken, Felsen

als würde eine Gestalt, nur von hinten gesehen,
dich anmutig auffordern hereinzutreten
in die Nacht, so hell, wie niemals zuvor erträumt.

*

Zwei Silberreiher über dem Lez, der unsichtbar ist
hinterm Schilf.

*

«Diese kleine Hoffnung, die seilhüpfen würde in den
Prozessionen…»
(Péguy)

*

Hielte das Licht die Feder,
atmete die Luft selbst in den Worten,
so wäre es besser.

*

Was ich gedacht habe in diesem Sommer, nachdem ich die Ode an eine Nachtigall von Keats in der schönen Übersetzung von Bonnefoy gelesen hatte: dass der Gesang der Nachtigall noch etwas ganz anderes war.

«Dryade d’aile claire de ces arbres… /  der Bäume lichtbeflügelte Dryade…»
Keats träumt davon, sich emporzuschwingen bis zur Trunkenheit des singenden Vogels. Anwesend: die Sommernacht, ihre Düfte, ein tiefes Verlangen zu sterben. «Enfuie est la musique… / Entflohen die Musik…»

Ja, dieses Gedicht gehört zu den allerschönsten; aber ihm entgeht dennoch das Besondere in der Stimme einer Nachtigall, das Wesen ihres Zaubers. Den ich ein erstes Mal versucht habe in einer der Notizen aus der Tiefe zu fassen.

Bei Keats spielt der Gesang der Nachtigall seinen Part im Konzert der Sommernacht; doch mehr noch ist er das Aus-sich-Herausschleudern oder das In-sich-Erwachen, einer grossen Melancholie. Ein Jahrhundert später wird Rilke seinem Rätsel viel näher kommen: in der Achten Duineser Elegie, aber auch in einem Brief an Lou Salomé vom 20. Februar 1914: «Daher die reizende Lage des Vogels auf diesem Wege nach Innen; sein Nest ist ja fast ein von der Natur ihm bewilligter äußerer Mutter­leib, den er nur ausstattet und zudeckt, statt ihn ganz zu enthalten. So ist er dasjenige von den Thieren, das zur Außenwelt eine ganz besondere Gefühlsvertraulichkeit hat, als wüßte er sich mit ihr im innigsten Geheimnis. Darum singt er in ihr, als sänge er in seinem Innern, darum fassen wir einen Vogellaut so leicht ins Innere auf, es scheint uns, als übersetzten wir ihn, ohne Rest, in unser Gefühl, ja er kann uns, für einen Augenblick, die ganze Welt zum Innenraum machen, weil wir fühlen, daß der Vogel nicht unterscheidet zwischen seinem Herzen und dem ihren.»

Eine Stimme, die sich nicht an uns richtet, von uns nichts weiss, und darum wirkt sie so rein, aufsteigend wie eine flüssige Flamme, eine flüssige Rakete – ein Wasserstrahl.
Sich hochschraubend wie manch wundervolle musikalische Phrase, als Ranke; im Samt der Sommernacht.
Es rieselt nach oben.

Keine Melancholie, keine Klage in diesem Gesang: wie, so dünkt uns, im Schrei des Uhus oder im Ruf der Ringeltauben.
Auch keine Nervosität wie, natürlich immer nur dem Anschein nach, im Geschrei der Tauben oder sogar im Tschilpen mancher Spatzen.

Das hängt zusammen mit der Nacht, obwohl sie oft tagsüber singen: ja, am Klang des Wortes «nuit»; und es steigt herauf aus dem Schutz der Bäume, des Gestrüpps, als sei’s die Stimme dieser Bäume.
Als sei’s Wasser: es erfrischt, stillt den Durst des Ohrs.

Es versucht sich auch; sprüht nicht auf Anhieb, sondern muss Schwung holen. Man vergisst, denn niemals ist es zu sehen, dass ein Vogel so spricht.

Es erhellt die Nacht wie eine zärtliche Rakete; und vereint sich natürlich mit dem Mond: steigt ganz natürlich zu ihm auf.

Es könnte noch etwas sein wie eine Perlenkette fürs Ohr.

*

Traum. Zunächst eine Brache, wo eine tiefe Grube ausgehoben ist, in der ich dringend das erloschene Feuer wieder anzünden muss, also Holz suchen, um es zu unterhalten. (Aber das geschieht paradoxerweise «gleichzeitig» bei unseren Freunden R., dazu kommt vielleicht noch tief in meinem Inneren das Schuldgefühl, mich nicht genug um sie gekümmert zu haben. Der Beweis ist, dass ich, obwohl diese Brache wirklich nichts mit ihrem Garten am See zu tun hat, beim Suchen nach brennbaren Brettern auch Überreste von Marmor entdecke, sogar recht elegante Säulenschäfte oder Zylinder, die daran erinnern könnten – Monsieur R. arbeitete mit Marmor.)
Später finde ich mich zusammen mit anderen in einem grossen Salon; ich muss ständig Madame R. unter den Armen stützen, damit sie nicht zusammenbricht, unter dem ängstlichen Blick ihres Mannes. Es tritt eine Hausangestellte herein, ohne an die Tür zu klopfen, begleitet von einem grossen Hund, den sie reizt, während wir doch alle wissen, dass er aggressiv sein kann und dass er sie erst vor kurzem gebissen hat. Madame R. selbst zeigt sich, ihrer Krankheit wegen, aggressiv gegenüber den Dienst­boten – davon gibt es mehrere; auch mir gegenüber, als sie um meinen Hals ein Tuch sieht, ähnlich demjenigen, das sie im Haar trägt, und sie wirft mir vor, den Byron spielen zu wollen.
Später, während ich allein den Quai entlanggehe vor ihrem Haus, erblicke ich meine Freunde, jenseits der Gartenmauer – im Traum höher als in der Wirklichkeit –, sie liegen beide zum See hin gewandt in einem grossen Bett; in diesem genauen
Augenblick begreife ich, Madame R. ist nicht mehr am Leben.
Noch später, während jetzt ihr Mann gestützt werden müsste – und wir sind nun wieder in einem ziemlich weitläufigen Raum –, bringt eine Gruppe von Männern mittleren Alters, angezogen wie Grossaktionäre, deren Gebaren und Aussehen sie auch haben, einer nach dem andern Monsieur R. etwas, das ich nur schlecht erkenne, vielleicht eine Art Zettel, die Mitteilung oder die Bescheinigung vom Tod seiner Frau. Diese, plötzlich wieder anwesend und lebendig, verschwindet, zum Plafond oder gen Himmel schwebend, wie Rauch, in einem bizarren und unheimlichen Aufstieg.

*

Traum. In dem ich Passanten entgegengehe, von denen viele verdächtig wirken, als würden sie nur darauf warten, einen auf diese oder jene Weise anzugreifen. Ich erinnere mich vor allem, dass am Ende des Alptraums zwei oder drei sehr kleine Kinder oder Zwerge mit maskierten Gesichtern sich auf mich stürzten und dass einer mich wild in die Hand biss; worauf ich ihn voll trauriger Bestürzung fragte, warum er das getan, welches Vergnügen er daran wohl gefunden habe. Beim Erwachen sagte ich mir, dass man den Schmerzen, die einen zuweilen mit dem Alter heimsuchen, derlei Fragen nicht stellen kann.

*

Wenn wir heute mit Freunden telefonieren: kurz ist vor mir das Bild von Schiffbrüchigen aufgetaucht, die, jeder in seinem Kerker aus Wasser, einander die mehr oder weniger langsam schrumpfende Höhe des noch herausragenden Teils ihres Körpers zurufen. Da sie noch reden können, schaut also wenigstens der Kopf raus; jeder weiß, es wird nicht mehr allzu lang dauern.
Wahrscheinlich muss man unter diesen verheerenden Umständen erneut bekräftigen, was man gesehen hat in der Ordnung des Lichts, vor der Katastrophe.

*

Mit dem entfesselten Wind heute steigen die abgenutzten, rostigen Blätter hoch und wirbeln wie ausgestreute Glut eines Feuers; und begegnen Vögeln, die sich der ersten Kälte wegen bereits den Häusern nähern.

*

Eine Anstrengung, in letzter Minute, um wieder zu sich selbst zu kommen, vor dem goldenen Hintergrund der Kälte im Laub: man wird dort keine Ikonen mehr malen, doch vielleicht etwas anderes, eine andere Art von Gesicht, oder nur ein paar Lebenszeichen, und selbst wenn es abblättert.

*

Farben des Himmels gestern abend, unter Wolken aus Asche und Schnee schwer wie Gebirge: Rosa, Gelb und Grün; genauer gesagt, ein Beinah-Rosa, ein Kaum-Gelb und ein Kaum-Grün, übereinandergeschichtete Streifen von Seide im zartesten Ton, durchscheinend, sanft schimmernd kurz vor der Dunkelheit – Blumen, sorgfältig Seite an Seite gelegt in eine unsichtbare Kiste – eine stumme Einladung, Flora aufzusuchen am Horizont.

*

(Diese wenigen Geräusche, die noch vordringen ins Herz, Herz eines Beinah-Gespenstes.

Diese wenigen Schritte, noch gewagt hinaus in die Welt, die sich scheinbar entfernt, und doch tut dies eher das Herz, widerwillig.

Keine Klagen jedoch, nichts, was die allerletzten Laute übertönen könnte; keine einzige Träne, die den Blick trübte auf den immer ferneren Himmel.

Worte, schlecht gemeistert, schlecht aneinandergereiht, sich wiederholende Worte, begleiten sollen sie den Reisenden noch wie der Schatten eines Bachs.)

 

Die vorliegenden Texte von Philippe Jaccottet sind von den Übersetzern Elisabeth Edl und Wolfgang Matz gemeinsam mit der Redaktion ausgewählte Auszüge aus «Ce peu de bruits» (Paris: © Editions Gallimard, 2008). Sie erscheinen im «Literarischen Monat» erstmals auf Deutsch.

 

 


Philippe Jaccottet
wurde 2014 in die Pariser Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen – als einer von nur wenigen Dichtern bereits zu Lebzeiten. Er übersetzte so unterschiedliche Werke wie Hölderlin-Gedichte, Manns «Tod in Venedig» und Homers «Odyssee». Jaccottet lebt in Grignan (F).


Elisabeth Edl und Wolfgang Matz
übersetzen Philippe Jaccottet seit über zwanzig Jahren gemeinsam und preisgekrönt. Wie jedes Jahr besuchten sie den Dichter im Mai im französischen Grignan.

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