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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser

Seinen Namen hörte ich erstmals in der S-Bahn. Ein Bekannter wies mich auf sein Werk hin: das sei ein Ausnahmeschriftsteller gewesen, Emigrant aus Deutschland, Säufer, Skandale, profilierter Literaturbetriebskritiker, grosse Verlage, aber heute vergessen. Ich stockte. Wie konnte das sein? Wie konnte es sein, dass ich von diesem Autor nie gehört oFder gelesen hatte, trotz Literaturstudiums, trotz Feuilletonlektüre, trotz ständigen Austauschs mit den Schweizer Kollegen? Ernst Herhaus. Nie gehört.

Google hat mir Ernst Herhaus dann gezeigt: dunkle Haare, Schnurrbart, glasige Augen. Wikipedia listet 15 Bücher eines zu Lebzeiten sehr umstrittenen Schriftstellers auf, der keine 20 Kilometer von mir entfernt geboren wurde, auch die Rheinseiten wechselte, zwar nicht so nüchtern, aber unter besserem Pseudonym: Clemens Fettmilch. Nun arbeite ich mich durch die abgewetzten Paperbacks, die ich antiquarisch ergattern konnte, und frage mich ein weiteres Mal: Wie kann es sein, dass ich nie zuvor von ihm gehört habe? Gehört dieser Autor nicht zum hiesigen Kanon, aufs Treppchen einer Schweizer Literaturgeschichte?

Aus dem Stutzen ist der Schwerpunkt dieses Hefts zum «Vergessen» (ab S. 4) geworden, in dem Ernst Herhaus zwar wieder nicht auftaucht, aber viele seiner Betriebsgenossen, die ebenfalls vergessen wurden. Wir gehen der Frage nach, was dazu geführt hat, dass sie vergessen wurden, während andere erinnert werden, befragen Forscher, Autorinnen und Autoren nach dem Prozess des Vergessens und nach ihrer eigenen selektiven Vergesslichkeit – wir stellen also gleich mehrere grosse Fragen auf einmal. Fast vergessen: Antworten darauf gibt es auch!

Viel Vergnügen!

Michael Wiederstein

 

PS: In dieser Ausgabe treten zwei neue Autorinnen das Erbe unserer langjährigen Kolumnisten Stefanie Sourlier und Francesco Micieli an: Laura Wohnlich und Laura Vogt. Wohnlich zierte das Cover der letzten Ausgabe und beschäftigt sich ab sofort mit dem Verhältnis zwischen Schreiben und Leibesertüchtigung (S. 35). Vogt widmet sich ebenfalls einem Hochleistungssport (S. 45), allerdings dem wohl anspruchsvollsten: dem Muttersein. Herzlich willkommen!


Die Texte unseres Schwerpunkts finden Sie unter den folgenden Links:

Irgendwann
von Stef Stauffer

Ist dabei sein alles?
von Matthias Beilein

Snobs im poetischen Prekariat
von Claire Plassard

Nicht zu vergessen #1
von Frédéric Zwicker

Nicht zu vergessen #2
von Catherine Lovey

Nicht zu vergessen #3
von Eva Maria Leuenberger

Nicht zu vergessen #4
von Gregor Szyndler

«‹Bildungsbürger› ist ein verlogenes Wort»
Alicia Romero und Gregor Szyndler treffen Peter von Matt

Brambachantischer Gartenbau
von Felix Philipp Ingold

Schulschriftsteller
von Alain Claude Sulzer

Der Dichter und das Klischee
von Christoph Grube

In Antiquariaten gestrandet
von Gallus Frei-Tomic

Zum Ausschluss eines Absagers
von Martin R. Dean

Eine Leiche, die immer schon Gespenst war
von Jan Decker

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