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«Kita? Du warst schon immer etwas egoistisch»

Kind schaukeln. Schreiben.

«Kita? Du warst schon immer etwas egoistisch»
Bild: zvg.

Das sagt sie, ohne das kleinste Zucken im Gesicht, kein Wimpernschlag, nicht einmal der Wind bewegt ihr Haar, nur dieser Satz zwischen meiner Tante, zwei grossen Stück Kuchen, die der Kellner eben serviert hat, und mir.

«Wie meinst du das?»

«Hauptsache, du kommst zum Zug. Das war schon als Kind deine Devise.»

Die Kuchengabel gleitet von oben durch das weiche Gebäck, die Buttercrème ist schon angeschmolzen, viel zu süss in meinem Mund. Ja, ich gebe zu: Ich bringe meinen Sohn in die Kita, seit er siebeneinhalb Monate alt ist, jede Woche zwei ganze Vormittage lang wird er dort von jungen, teils sehr jungen, auch älteren und sehr sympathischen Frauen betreut, und mein Partner und ich haben uns dafür entschieden. Ganz ohne Not. Derweil gehe ich keiner überlebenswichtigen Arbeit nach, keinem finanziell lukrativen Job, ich nehme nicht einmal die Böden in unserer Wohnung feucht auf, nein, in dieser Zeit schreibe ich. Und er? Er macht Musik. Jetzt ist raus, was meine Tante natürlich längst weiss: Wir sind eine egoistische Künstlerfamilie.

Ich schlucke den Bissen hinunter.

Sie hat nun ebenfalls zu essen begonnen, ein gigantisches Stück Schwarzwälder, sie zieht die Augenbrauen hoch und sagt: «Früher hat es solche Institutionen nicht gegeben. Da haben die Mütter auf ihre Kinder aufgepasst, statt ihren Hobbys nachzugehen.»

«Dann lass uns anstossen auf die Familie von einst», entgegne ich prompt.

«Du nimmst mich nicht ernst», erwidert sie und schaut mich streng an, dann wandert ihr Blick zu meinem Sohn, der im Wagen neben uns schläft. Wer nimmt hier wen nicht ernst, denke ich und frage mich, wie viele Bücher sie in den letzten Wochen und Monaten wohl gelesen hat. All die Seiten, die sie durch ihre Rentnerinnenhände hat gleiten lassen, Seiten, an denen jemand stundenlang geschrieben, darüber nachgedacht haben muss, um es ihr zu ermöglichen, in fremde, neue Welten zu tauchen, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die sie sich manchmal gern, manchmal ungern stellt.

«Ich bin der Überzeugung, dass ein Kind in der Kernfamilie am besten aufgehoben ist», setzt meine Tante wieder an. «Also mein Jonas sagt heute noch, wie sehr er das geschätzt hat.»

Mama, Papa, Kind, Kind, unsere Tischsets, unsere Hausschuhe, unser Hamster. Dass die Kernfamilie evolutionär betrachtet ziemlich frische Ware ist, ist kein Geheimnis. Dass ein Kind ein bis drei nahe Bezugspersonen braucht, auch nicht. Von der Grossfamilie zur Kernfamilie und nun auch darüber hinaus: Betreuungsmöglichkeiten sind so mannigfaltig geworden wie Familienentwürfe. Mein Sohn geht liebend gerne in die Kita, egal, welche Theorien von Nicola bis Schmidt, von Remo bis Largo und vor allem von meiner Tante aufgestellt werden. Das ist okay. Solange mir klar bleibt, dass Schwarz und Weiss, gut oder schlecht Kategorien bleiben für jene, die sich ihrer Geschichte mit Vorliebe selber versichern.

«Deinem Jonas geht es gut? Ich habe gehört, er sei wieder bei dir eingezogen.»

Stirnrunzelnd schaut mich meine Tante an, für den Bruchteil einer Sekunde blitzt Wut, vielleicht auch Verwunderung in ihren Augen auf. «Darf ich mal?», fragt sie nach kurzem Zögern und nimmt ihre Gabel. Ihr Stück hat sie schon verputzt.


Laura Vogt
ist Schriftstellerin. Zuletzt von ihr erschienen: «So einfach war es also zu gehen» (VGS St. Gallen, 2016). In ihrer neuen Kolumne macht sie sich Gedanken zum Schriftstellerin- und Muttersein.

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