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Les Haizettes

In La Queue-les-Yvelines, vierzig Kilometer westlich von Paris, begleitet ein milder Wind den frühen Abend.

Les Haizettes

In La Queue-les-Yvelines, vierzig Kilometer westlich von Paris, begleitet ein milder Wind den frühen Abend. Aus einem altersschwachen Regionalzug steigen drei müde Seelen, schlendern an dem verwaisten Bahnhof vorbei zum Parkplatz und setzen sich, kaum ziehen die graffitibemalten Waggons davon, in ihre tadellosen Renaults. Am Saum des Platzes steht eine telefonlose Telefonkabine, die als subtile Bibliothek dient: Offen rund um die Uhr, sind ihre Leihfristen unendlich, die Ausleihen kostenlos. Was den Bestand der Bücher angeht, vertraut die Einrichtung auf eine bescheidene Leserschaft. Ich klemme mir eine Taschenbuchausgabe von La condition humaine unter die Achsel. Den grimmig seinem Leid entgegenschreitenden Asiaten, der das Cover ziert, nehme ich als Talisman mit auf eine Wanderung, zu der mich allein ein Blick auf die Karte verführt hat, genauer: ein grosser grüner Fleck hinter Versailles.

Zwanzig Meter hinter einem Jugendlichen, der, Kopfhörer auf den Ohren, ein Lied mitsingt, spaziere ich durch das friedliche La Queue. Nach der ersten Lichtung, dort, wo der Wind seine Flanken ins kräftige Getreide drückt, erreiche ich mit Les Haizettes eine Siedlung, deren Bewohner wehrhaft sind. Drei Meter hohe Thuja-Mauern umfassen stolze Grundstücke, bullige Hunde kläffen das Lied der Gastfeindschaft. Ich breche mir einen Zweig aus einer Hecke, finde im Fachbuch aber den Hinweis, dass insbesondere die Blattspitzen der Thuja giftig seien. Es überrascht mich nicht.

Auch schöne Momente erwarten mich: Die von warmem Abendlicht durchflutete Jungbirkenschule. Die weiche, kaum hörbare Landung eines Tannenzapfens im Moos. Das Stück Aprikosen-Pistazien-Kuchen, das ich eingepackt und vorsätzlich vergessen habe, um mich selber zu überraschen. Ansonsten muss ich Schritt für Schritt einsehen: es ist ein stinklangweiliger, flacher Wald mit schnurgeraden Wegen.

Bald nimmt mir die Dämmerung die Karte aus der Hand. Auf altem Laub richte ich mir ein Lager ein, von dem mich Ameisen, spurgetreu ihren Bahnen folgend, bald vertreiben.

Rabenschwarz ist nun der Wald, durch den ich auf düsteren Pfaden wandle. Erschöpft lege ich mich endlich unter eine junge Buche. Auch hier bleibe ich nicht lang alleine: Eine Mückenfamilie zispelt heran, ihre weitverzweigte Verwandtschaft rückt rasch nach. Schlaf ist ein fernes Paradies, aber weiter durch die Pechschwärze dieses Waldes wandern mag ich nicht. Die halbe Nacht schlage ich, bewehrt mit der condition humaine, um mich, meist auf die Ohren, wo mein Blut offenbar besonders gut abzuzapfen ist.

Mit dem ersten Licht des Tages lasse ich das summende Geäst hinter mir. Vollkommen erledigt, mit zerstochenem Gesicht wandere ich Richtung Rambouillet. Von einem zweiten Stück Aprikosen-Pistazien-Kuchen halluzinierend, bin ich froh, bald ein Getreidefeld zu entdecken, auf dem auch Mohn wächst. Ich schiebe mir Blütenblätter in den Mund: als Frühstück vielleicht etwas trocken, aber lecker.

Mein ständiger Reisebegleiter, das Lexikon von Fleischhauer et al., berichtet: «Vermutlich waren die Blüten des Klatschmohns früher Teil eines Liebesorakels. Probieren Sie es aus: Legen Sie die Blütenblätter auf Hand oder Stirn und schlagen Sie mit der anderen flachen Hand dagegen. Je lauter es klatscht, desto grösser die Erfolgsaussichten…»

Ich lasse dies freilich bleiben, geschlagen habe ich mich genug. Was ich nun brauche, ist ein Orakel, dessen Worte im Schlaf zu erreichen sind.


 

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