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Lieber genial als bienenfleissig

Warum Flow und Schreibrausch Ausnahmen bleiben sollten. Besuch bei einer Arbeitspsychologin.

Frau Debus, wir sind hier, um mit Ihnen über das Thema Schreibrausch zu sprechen…

Was ist denn das eigentlich, ein Schreibrausch?

Wir hofften, Sie könnten uns das sagen: immerhin haben Sie den Flow bei Programmierern, Klavier- und Schauspielern untersucht…

Trotzdem: was soll das sein, ein Schreibrausch?

Wenn man sich ohne bestimmte Schreibabsicht hinsetzt, und schwups sind fünf Stunden vorbei und zwanzig Seiten geschrieben, und das mit hoher Konzentration.

Das ist ja interessant. Ich habe vielleicht auch schon Vergleichbares erlebt beim Schreiben von Papers. Und was ist sonst noch typisch?

Situationsromantik? Die Flasche Rotwein, die auf dem Schreibtisch steht, oder das ritualmässig aufgereihte Schreibwerkzeug?

Da haben wir ja schon ein paar ganz verschiedene Annäherungen an den Begriff! Wenn ich von meinem Forschungshintergrund Vermutungen anstellen müsste, würde ich erstens sagen: Schreibrausch ist völlig subjektiv – ein Gefühl, dass im Moment des Schreibens einfach alles passt. Zweitens hat man klare Ziele und bekommt Feedback aus der Tätigkeit. Man weiss genau, wo man hin will, weiss zu jedem Zeitpunkt der Tätigkeit, wo man ist. Aus dem Schreiben kommt Zufriedenheit – wie beim Flow.

Warum ist der Flow heutzutage in aller Munde?

Wie einige Begriffe aus der Psychologie leidet Flow ein bisschen an seiner eigenen Popularität, an all diesen Ratgeberbüchern oder Hochglanzmagazinen. Er wird als Schlüssel zum Glück gesehen: produktives Arbeiten, scheinbar möglich ohne allzu grosse Anstrengungen.

Dann wollen wir also im Flow sein, weil wir zu faul sind für harte Arbeit? 

Nein, das wäre der falsche Schluss. Diese Art von Arbeit ist in Wirklichkeit unglaublich anstrengend. Ich habe ja in meiner Untersuchung Programmierer befragt. Meine These war, dass Arbeiten im Flow kein sanftes Vorsichhinfliessen ist, sondern ein Zustand der Selbstvergessenheit – bei der man sich, Hunger und Durst und das WC vergisst. Das muss doch erschöpfen.

Und hat sich Ihre These bestätigt?

Nein. Erstaunlicherweise verspürten die Befragten umso weniger Erschöpfung, je intensiveren Flow sie erlebt hatten.

Wie erklären Sie sich das?

Ich vermute, dass die Befragten kurz nach dem Flow so glücklich waren, dass sie die Erschöpfung und Anstrengung nicht bemerkten. Ich hätte die Programmierer besser später befragt, nach der Euphorie. Dann wäre die Erschöpfung klarer hervorgetreten.

Warum ist es vielen Autoren so wichtig, zu betonen, dass ein Text im Rausch entstanden sei?

Es wird eher mit Genialität verbunden als die möglicherweise ernüchternde Erfahrung des stillen Kämmerleins. Man wird lieber für genial gehalten als für bienenfleissig.

Was steht hinter dem Flow-Konzept, mit dem Sie arbeiten?

Es geht zurück auf den Psychologen Mihály Csíkszentmihályi, der diesen Begriff 1975 beschrieb. Die von ihm befragten Leute sagten, dass sie bei den ausgeführten Tätigkeiten «im Fluss» waren. Charakteristisch für deren Flow-Erlebnisse war der total glatte Verlauf. Ich kann einfach machen und immer weitermachen. Es läuft von alleine, und ich werde von der Tätigkeit völlig absorbiert. Generell kann Flow bei allen Tätigkeiten auftreten, die ein gewisses Anforderungspotenzial besitzen. Er tritt auf, wenn die Anforderungen einer Tätigkeit perfekt zu den Fähigkeiten passen, die ich mitbringe. Wenn ich einer Aufgabe sehr gut gewachsen bin und zugleich spüre, dass es nach wie vor eine Herausforderung bleibt.

Also keine im Autopilot abgespulte Tätigkeit, die sich jeglicher Kontrolle entzieht?

Genau! Man muss das Gehirn einschalten, achtsam sein, kann das Ganze nicht einfach mal so nebenher erledigen.

Schliessen sich Routine und Flow gegenseitig aus?

Ja.

Sicher?

Definitiv.

Tja, dann wünschen wir Ihnen viel Spass bei der Lektüre von Magnus Wielands Essay. Er vertritt die These, dass Schreibrausch und Routine zusammenhängen.

(Lacht) Routine hat nicht den Aspekt der Herausforderung. In der Routine macht man eine Tätigkeit automatisch – was beim Flow nicht der Fall ist. Wenn man im Flow ist, hat man das Gefühl, dass alles automatisch geht – aber dennoch muss man sich konzentrieren und sich anstrengen, damit man die Tätigkeit bewältigen kann.

Kann man den Schreibflow oder den Schreibrausch wenigstens mit gewissen Routinen wahrscheinlicher machen – bestimmte Bleistifte, Arbeitszeiten, Papiersorten oder sonstige Vorkehrungen?

Wichtig sind Umgebungen, in denen nichts ist, was den bestenfalls auftretenden Flow behindern könnte. Nicht, dass bestimmte Stifte den Flow auslösen, aber sie sorgen dafür, dass man weniger unterbrochen wird, weil man etwa nicht nachspitzen muss.

Kann man sich wenigstens in eine bessere Stimmung für einen Schreibflow oder Schreibrausch bringen?

Was glauben Sie, wäre eine solche bessere Grundstimmung?

Eine positive, zuversichtliche?

Studien zeigen, dass wir besonders kreativ sind, wenn wir in schlechter Stimmung sind. In positiver Stimmung finden wir alles toll und hinterfragen unsere kreativen Ideen nicht. In schlechter Stimmung haben wir mehr Durchhaltevermögen und hinterfragen unsere Ideen eher.

Haben Sie sich auch schon mal hingesetzt und sich in einen Rausch geschrieben?

Ich bin da anders gestrickt. Ich kann mich nicht einfach hinsetzen und mit Schreiben anfangen. Das geht gar nicht. (Lacht)

Trotzdem stellen sich viele Leute den Schreibrausch genau so vor…

Ich bezweifle nicht, dass viele Leute so schreiben – ich kann es aber nicht. Damit ich nahe an einen Schreibrausch rankomme, muss ich das Denken der Argumente von ihrem Aufschreiben trennen. Für mich ist es wichtig, Stichworte vor mir zu haben, bevor ich loslege. Eine gut vorbereitete Struktur kann mir helfen, heute im Rausch zu schreiben. Aber es gibt keine Garantie, dass das morgen auch funktioniert. Es gibt weitere Bedingungen, die für den Flow wichtig sind. Beispielsweise, dass ich die Tätigkeit als bedeutsam wahrnehme, das Gefühl habe, autonom handeln zu können, dass ich eine Aufgabe möglichst ganzheitlich erledigen kann. Flow-Erfahrungen sind fragil und entstehen fast zufällig.

Wenn Sie ein Experiment entwickeln müssten, um Schreibrausch zu messen – wie würden Sie vorgehen?

Ich würde versuchen, Schreibrausch als eine Form von Flow zu induzieren… Durch mögliche Schreibaufgaben.

Aufgaben?

Ja.

Und wie sähen diese Aufgaben aus?

Sie müssten für die Probanden immer ein bisschen schwieriger werden – und immer perfekt zu deren Fähigkeiten passen. Dabei ergibt sich dann aber ein Problem: Sobald ich die Autoren unterbreche und sie zum Ausfüllen des Fragebogens anhalte, reisse ich sie aus ihrem Fluss. Je genauer ich es wissen wollen würde, desto näher dran müsste ich sein.

Gibt es eine zeitliche Obergrenze für den Flow?

Man kann sagen, dass der Flow nicht sofort bei Aufnahme einer Tätigkeit anfängt, sondern sich erst einstellen muss. Aber dann kann es von Minuten bis zu, würde ich sagen, Stunden gehen.

Wäre es eigentlich erstrebenswert, den Flow oder Schreibrausch zum Normalzustand zu machen?

Wenn im Leben alles nur noch Flow wäre, kann ich mir vorstellen, dass es schädlich wäre. Nur schon, weil es die Interaktion mit der Umwelt erschwert. Man ist ja so absorbiert, dass man nicht mehr viel um sich herum mitbekommt.

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Einmalig leicht

Schreiben – ein Rausch? Schreiben ist eine Qual. Begleitet von Zweifeln an mir und Zweifeln an der Sache. Ich steige nur ungern in diesen dunklen Keller hinab. Ich tue es, weil Glanz, Ruhm und Geld die Mühen wert sind. Einen Schreibrausch habe ich ein einziges Mal erlebt. Er dauerte von Februar bis August im Jahr […]

Abbildung 2: Hans Morgenthaler, Brief an Elisabeth Thommen (Schweizerisches Literaturarchiv, Bern/Nachlass Hans Morgenthaler).
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