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Tête de Ran

Ein regnerischer Tag steht im Kalender, als wir mit dem Zug von Bern aus westwärts reisen; La Chaux-de-Fonds ist unser Ziel.

Tête de Ran

Ein regnerischer, von Winden zerzauster Tag steht im Kalender, als wir mit dem Zug von Bern aus westwärts reisen; La Chaux-de-Fonds ist unser Ziel. In Neuchâtel fährt unser Zug nicht nach kurzem Halt weiter, sondern verharrt während eines sich dehnenden Moments ganz still, als wolle der Lokführer uns Reisenden die Chance geben, das leise Rieseln der verrinnenden Zeit zu vernehmen. Alsbald werden wir informiert, dass der landesweit sich austobende Sturm einen Baum aufs Gleis geschmissen habe, weswegen dieser Zug nicht nach La Chaux-de-Fonds werde fahren können.

Eine Stunde später stehen wir in dem uns als Umfahrung anempfohlenen Biel auf dem Bahnsteig, wo, als werde hier etwas versteigert, jede Verspätungsmeldung die vorangehende überbietet. Alsbald erfahren wir, dass der Sturm hinter Courtelary – zwischen Biel und La Chaux-de-Fonds – einen nächsten Baum aufs Gleis geschmissen habe.

Ich stelle mir diese Bäume vor, wie sie mit verrenkten Gliedern und gebrochenen Knochen auf dem Metall liegen. Stelle mir das Bahnpersonal vor, gehüllt in orange Leuchtwesten, in alten Remisen nach verstaubten Kettensägen suchend; wir entscheiden uns, in Biel essen zu gehen.

Als wir nach 15 Uhr wieder am Bahnhof stehen, ist, was hinter Courtelary liegt, noch abgeschnitten, während der Baum, der hinter Neuchâtel aufs Gleis fiel, bereits zersägt werden konnte. Also zurück nach Neuenburg. Der Zug, in den wir dort steigen, will nicht so recht an Fahrt gewinnen; als stehe der Lokführer jedes Mal, wenn er einen schwächelnden Baum sieht, präventiv auf die Bremse. Immerhin gewinnen wir an Höhe, bestaunen den See und das erhabene, aus seiner Himmelspiegelfläche emporsteigende Licht – bis uns der Schaffner unterbricht: Unser Zug habe sich in eine derartige Verspätung hineingefahren, dass er in Les Hauts-Geneveys anhalten und nach Neuchâtel zurückkehren werde.

Kaum hörbar reisst unser Geduldsfaden: Wir steigen aus und wandern los, besteigen in Schneeschuhen die Tête de Ran, tasten uns an die Baumgrenze heran und stellen, von Schneeflocken umtanzt, längst ist es dunkel, unser Zelt auf.

Anderntags werden wir unfreundlich abgeduscht: Peitschender Wind und kolossaler Niederschlag jagen horizontal über die nebelverhangene Anhöhe. Durch betonschweren Schnee stapfend biegen wir minutenlang rechts ab, bloss um geradeaus zu gehen.

Natürliche Nahrung ist Mangelware; wer sich nicht von Tannennadeln zu ernähren vermag, hat’s schwer. Aber die vielen kinderfaustkleinen, von Böen herumgeworfenen, fussligen, den Bäumen entrissenen Wesen? Bartflechten sind, wohldosiert, tatsächlich essbar. Die zotteligen Dinger lieferten einst, dem Mehl beigemischt, nicht nur Energie: Die darin enthaltene Usninsäure ist ein natürliches Antibiotikum – frei verfügbar, ganz ohne Medizinalindustrie.

Stunden später sitzen wir, in klatschnassen, eiskalten Kleidern, aber heil und umweht von einem zarten Glück, in La Chaux-de-Fonds in der bestgeheizten Ecke der «Pizzeria Dolce Vita», bestellen ein rettendes Essen und philosophieren über eine Schweiz, in der nicht der Mensch und seine irre Wirtschaft, sondern Natur das Sagen hat. Auch wenn es bisher nur ein paar Bäume waren, die sich ihm in den Weg legten.


 

 

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