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Dagny Gioulami:
«Alle Geschichten, die ich kenne»

 

Früher haben meine Grosseltern mir vor dem Schlafengehen immer selbst ausgedachte Geschichten erzählt. Geschichten von den Hasen im Wald und Hunden und Kätzchen auf dem Bauernhof. Ich habe als Vierjährige oft unter den Händen meiner Oma beim Haarewaschen daran gedacht, wie es den Tieren wohl ergehen mag und was sie gerade tun. Ich fühlte mich gar persönlich für ihr Schicksal verantwortlich: Wenn ich nicht brav sei, glaubte ich, stosse den Tieren aus den Grosi-Geschichten etwas Schlimmes zu. Das hat nicht nur dazu geführt, dass ich – zumindest in meiner Erinnerung – ein sehr braves Kind wurde, sondern jeweils auch mit gutem Gefühl einschlief: Ich wusste selbst den Hasen im dunklen Wald in Sicherheit, denn ich hatte ja alles getan, um sein Schicksal zum Besten zu wenden.

Dagny Gioulamis Roman «Alle Geschichten, die ich kenne» beginnt nun mit dem tragischen Schicksal eines Kleides, das immerhin ein Hasenmuster ziert. Als die Erzählerin es aus der chemischen Reinigung in Zürich zurückerhält, ist es ruiniert, voller Flecken und Risse. Zusammen mit einem «tätowierten Polizisten» macht sie sich auf eine Reise zur Rettung des Hasenkleids, die sie quer durch die Türkei in ihre Heimat nach Nordgriechenland führt. Tante Irini, eine begnadete Näherin, soll es flicken.

Gioulami erzählt feinfühlig die Geschichten einer Grossfamilie. Geschichten von Krieg, Verbannung, Verfolgung, von Liebe und Zerrüttung – mehrheitlich in Dialogform. Dazwischen immer wieder Sagen aus der griechischen Mythologie, die mehr und mehr mit den Erzählungen der Familienmitglieder zu verschmelzen scheinen. Abseits dieser Mythen hätte sich vieles aus «Alle Geschichten, die ich kenne» auch bis vor kurzem im Haushalt meiner Grosseltern in der Schweiz abspielen können. Ich höre die Stimme meiner Grossmutter, wenn die Tante im Roman sagt: «Wenn er sein Pyjamaoberteil verkehrt herum anzieht und die Pyjamahose auf der Hüfte trägt, so dass man die Unterhose sieht, und dazu steckt er ein Bein der Pyjamahose in den Strumpf, dann schimpfe ich mit ihm.» – «Warum sollte ich nicht? Es ist mein Haus», antwortet mein Grossvater. «Jetzt bin ich alt, ich mache keinen Unsinn mehr, nur noch zwei, drei Mal am Tag.»

Letztes Jahr ist meine Grossmutter gestorben. Und Tante Irini, die Näherin, weiss, dass es auch in ihrer Familie einen Verlust geben wird: «Lass mich. Lass die alten Geschichten. Der Onkel ist krank.» Dagny Gioulami versteht es, mit so einfachen wie effektiven Sätzen die Höhen und Tiefen ganzer Leben präzise und poetisch zu beschreiben. Zum Teil verfällt sie aber auch einem allzu braven und eher schwerfälligen Stil – was bei einer Geschichte, die sich lesen könnte, wie ein Road Trip sich anfühlt, schade ist. Mehr Ausflüge in literarische Traumwelten – wie etwa in der chemischen Reinigung: «Ich bin mir sicher, dass sich hier […] nach Ladenschluss Szenen der Zerstörung abspielen. Javelwasser wird verspritzt, Löcher werden gestochen, Nasenflügel abgerissen» – hätten die Geschichte, in der es am Ende auch keine Rolle mehr spielt, ob das Kleid gerettet werden kann oder nicht, noch lesenswerter gemacht. Aber so ist es eben mit all den Geschichten, die man kennt: Sie verändern sich mit der Zeit, die Erinnerung lässt dieses weg, dichtet jenes hinzu. Was genau die Tiere in den Geschichten meiner Grosseltern erlebt haben, weiss ich heute auch nicht mehr. Aber was bleibt und was vor allem zählt, ist das Gefühl von Geborgenheit. Und die Hoffnung, dass das Leben mir noch viele ähnliche Geschichten erzählen wird.

Dagny Gioulami: Alle Geschichten, die ich kenne. Frankfurt a.M.: weissbooks, 2015.

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