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Wacher Geist und wilder Eros

Wahrscheinlich ist der 1953 in Bern geborene Christoph Braendle in Österreich bekannter als in der Schweiz. Seit einem Vierteljahrhundert wohnt er mitten in Wien, sofern er nicht in Marokko ist oder sonstwo auf der Welt – im Grunde nämlich ist dieser Feingeist ein passionierter Weltenbummler.

Christoph Braendle hat als Journalist und Reporter gearbeitet, er hat skurrile Theaterstücke und glänzende Essays verfasst, er hat eine beachtliche Menge von literarischen Büchern publiziert – und keines gleicht dem anderen. Gemeinsam ist ihnen der wache, neugierige Blick auf die Welt, die immer wieder verblüffende Originalität des jeweiligen Themas und der dafür gewählten literarischen Form. Und natürlich die hohe sprachliche Qualität, die ihren Autor als ungewöhnlich vielseitigen und in zahlreichen Genres versierten Literaten erscheinen lässt. Man muss nicht alles von ihm kennen, um begeistert zu sein – seinen meisterlich komponierten Roman Der Meermacheraber schon, diesen packenden Text, der die durchglobalisierte Welt von heute konsequent auf ein Weltuntergangsszenario zulaufen lässt. Die Reportagen aus der Mitte der Welt sollte man ebenfalls lesen und unbedingt auch sein vorletztes Buch Das Wiener Dekameron, das von der Liebe und der Lust erzählt – ein Themenkomplex, der diesen Autor stets begleitet hat und ihn nicht loslässt. Was auch sein jüngster Roman beweist.

Onans Kirchen spielt im südlichen Afrika. Ein ungewöhnlicher, ziemlich schräger Text, immer wieder durchsetzt mit brillanten zivilisationskritischen Tiraden und voll von sprachwütenden Abrechnungen mit Rassismus und Kolonialismus. Seinen Protagonisten Parsifal, einen sehr bald in die Wildnis flüchtenden vierzigjährigen Regionaldirektor eines europäischen Firmenkonsortiums, der auf eine von «ständigen Weibergeschichten» durchsetzte Karriere zurückblickt, hat die «Afrikanische Krankheit» erwischt: «Wenn man plötzlich nichts mehr werden will, sondern nur noch ist.» Doch als er in einer alten Schweizer Zeitung ein Inserat entdeckt, in dem eine nicht mehr ganz junge Frau einen Mäzen sucht, «Kennwort Parsifal», da klingelt es denn doch gewaltig. Leider lebt das Objekt seiner Begierde in Wien und studiert dort angeblich Philosophie. Er hat sie noch nie gesehen, meint aber alles von ihr zu wissen. Bis zum überraschenden Ende in Richard Wagners Bayreuth bleibt sie unerreichbar. Und geheimnisvoll.

Wie nirgendwo sonst in der heutigen Schweizer Literatur gehen philosophischer Geist und tabuloser Eros sozusagen Hand in Hand. Die Tagebuchnotizen, die wir lesen, kreisen um einen Mann, der mitten im dunklen Kontinent den Gespenstern seines virilen, durchaus auch beängstigenden Innenlebens begegnet. «Jedenfalls war ich, Parsifal, ein Wüstling, der Herr Hans oder Don Juan, welcher ganze Blumenwiesen leer zu pflücken verstand. Und ich wusste, ich wusste jedes Mal schon in der ersten Nacht, dass im Bett der Beginn der Trennung liegt.» Und jetzt? Ein einsamer Parsifal in Omombo, einem Ort, der so etwas wie das Gegenteil von Wien zu sein scheint. «So weit das Auge reicht: nirgends Spuren von Zivilisation. Nur dieses Endlose, das über den Horizont hinausreicht, bis dorthin, wo vielleicht keine Welt mehr ist… Omombo ist für den, der weiss, was Liebe ist.» Diesem Fast-Nichts setzt Braendle ein fulminantes Selbstgespräch entgegen – die trockene Natur wird durch feuchte Träume und wilde Phantasien belebt, und es entsteht ein geistreiches, alle Sinne vital erregendes Sprachkunstwerk, dessen Lektüre auch den zunächst befremdlichen Romantitel plausibel erscheinen lässt. «Der transfunktionale Mensch verlangt, dass man endlich Onan Kirchen baut, diesem Propheten, der, radikal das Wachset und Werdet mehr! verweigernd, von allen Propheten der weitsichtigste ist. Weniger müssen wir werden, nicht mehr!» Prophetisch? Zuallererst: Spracherotik pur!

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