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Glitzernder, eiskalter Beton

Stephan Harvey, Hansueli Rhyner, Jürg Schweizer: Lawinenkunde. München: Bruckmann, 2012.

Glitzernder, eiskalter Beton

Die glitzernde Pracht, dieser Pulverschnee, der beinahe duftet, der weite unverspurte Hang – er liegt auf mir als eiskalter Beton. Kann meine Lungen kaum heben. Wo ist oben? Mir ist schlecht. Jetzt nicht kotzen. In einer Lawine zu sterben wird schrecklich. Noch schlimmer, wenn man in seinen letzten Minuten denkt: ich sterbe als Idiot. Jedes Jahr wird in den Alpen in die immer gleichen Fallen gewedelt. Das komplexe Zusammenspiel von Wind, Temperatur, Schneebeschaffenheit, Hang-lage und Exposition ist ein unnötig raffinierter Mörder. Am meisten gestorben wird in den Standardsituationen. Wer sie meidet, reduziert sein Risiko auf die Gefährlichkeit des Strassenverkehrs. Oh sonnige Verlockung, bei Rot in die vielspurige Kreuzung zu fahren!

Keine Schmerzen: Schock oder Glück. Das war kein Rutschen, der Hang ist auf mich herabgestürzt. Gott sei Dank bin ich nicht geknebelt. Schnee bis in den Rachen, und es bleiben einem ein paar Minuten. Bringe meine Mütze nicht über die Augen. Kann nicht einmal einen Finger bewegen. NICHT EINMAL EINEN FINGER! Nicht husten. Vor mir im Dunkelblau ein Loch. Bis es von meinem Atem vereist ist, kriege ich Luft. Ich muss pissen.

In den 50er Jahren die Trendwende. Die Ursachen spontaner Lawinenabgänge auf Siedlungen und Verkehrswege waren weitgehend bekannt. Die Opferzahlen rückläufig dank Lawinenverbauungen, Aufforstung und rechtzeitiger Evakuierungen. Auf tödlicher Überholspur hingegen: die Berggänger auf Skiern. Noch heute lösen 95 Prozent aller Opfer ihr Schneebrett selbst aus.

Die Zeit ist stehengeblieben. Die andern? Eine Frau, die sich in die Hosen gemacht hatte, wurde vom Lawinenhund als erste gefunden. Die Rettung braucht eine Dreiviertelstunde nur schon, bis sie hier ist. Blut im Mund.

Gegen die Unberechenbarkeit der Berge lehnte sich die Wissenschaft mit aller Macht auf. Schneeprofile wurden erstellt, Rutschkeile gesägt, Kristalle akribisch untersucht. Nur um wieder und wieder verschüttet zu werden. In den 90er Jahren dann der entscheidende Paradigmenwechsel: Werner Munter ersetzt analytische Lawinenkunde durch Risikomanagement.

Paul hatte einen Airbag an. Vielleicht liegt er an der Oberfläche – aber mit verdrehten Gliedern und vom Felsen gebrochenem Rücken. Vielleicht sucht er schon. Ich höre – nur mich selber.

Seine 3×3-Methode gaukle falsche Sicherheit vor, Berechenbarkeit gebe es nicht, riefen jene, die genau dies jahrelang versucht hatten. Die Reduktionsmethode bricht das hochkomplexe Schneegefüge auf wenige Entscheidungen herunter. Selbst Unerfahrenen ermöglicht sie, in der Planung und im Gelände ihr Risiko einzuschätzen. Der Geniestreich Munters: sein Lebens-werk passt auf einen Bierdeckel. Der Ketzer gilt heute als Papst.

Im Mittelalter haben sie Menschen lebendig begraben. Ich. Will. So. Nicht. Sterben. Das bisschen Sauerstoff. Am besten wäre es zu schlafen. So geht Erfrieren. Man schläft ein und wacht nicht wieder auf. Mir ist kalt. Aber auf eine andere Art.

Die Schweizer Lawinenforschung ist weltweit führend. Und unermüdlich. Obwohl heute rund sechsmal so viele Menschen in den Winteralpen unterwegs sind, hat sich hierzulande die Zahl der Lawinenopfer lediglich verdoppelt. Im Durchschnitt etwa 25 Personen pro Jahr. So viele sterben in den Bergen jährlich auch an Herzversagen.

Schritte. Sie laufen über meinen Kopf. Sollen sie mir doch mit der Sonde ein Auge ausstechen. Ich muss hier raus. Schnell!

Wer letzteres vorzieht, der lese «Lawinenkunde», das soeben erschienene Instant-Standardwerk, das die neuesten Forschungsergebnisse verdichtet und die weiter entwickelten Reduktionsmethoden leicht verständlich aufbereitet. Die Zusammenfassung
des aktuellen Wissens. Ein Buch für Profis. Ein Muss für Einsteiger. Kompakte Theorie, Praxiswissen zu Gefahren, Risiken und Strategien im Schneehang. Ein Kompendium des Überlebens.

Langsam atmen. Gegen die Panik atmen.

Eine halbe Stunde später sind über die Hälfte der Verschütteten tot. Eine intakte Chance auf Rettung besteht nur während der ersten 15 Minuten. Genauso lange dauert es, das erste Kapitel «Basics» zu lesen. Schon dieses Wissen genügte, um den klassischen Lawinenfallen zu entgehen. Und damit 80 Prozent aller Unfallursachen.

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