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Die Verengung des Lebens

Wie mich der Roman «Schlaflose Nacht» von Alice Rivaz über meine Familie grübeln lässt und mir im Morgengrauen das Dilemma zwischen Selbstverwirklichung und Fürsorge vor Augen führt.

Die Verengung des Lebens
(c) Christof Moser

Da liege ich jetzt, seit Stunden schon. Es ist nach drei Uhr nachts, und ich starre an den Decken-stuck meines Zimmers. 21 filigran gemörtelte Eichen-blätter, dazwischen stilisierte Hopfendolden. Draussen lärmt die Spassgesellschaft. An Schlaf ist nicht zu denken. Genau so wie geplant.

Schlaflosigkeit kenne ich nicht. Ich bin kein Grübler, der im Gewirr seiner Gedanken keinen Schlaf findet. Ich lege mich hin, und keine fünf Minuten später bin ich weg. Deshalb habe ich mir einen unmöglichen Platz zum Schlafen gesucht. Und ein Gäste-bett an der Eisenacher Strasse in Berlin-Schöneberg gefunden. Ein Spätverkauf direkt unter dem Fenster, eine Bar gleich nebenan. Geschrei, Gegröle und Gläserklirren bis ins Morgengrauen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse ein Kinderspielplatz, auf dem Stricher auf ihre Freier warten. Immer mal wieder quietscht die Schaukel, begleitet von Gestöhne.

Hier bin ich nun also, um zwei Nächte lang über das Leben nachzudenken, vielmehr: schlaflos vor mich hin zu grübeln. Über ein Buch, das Leben. «Schlaflose Nacht» von Alice Rivaz, geboren 1901 im Kanton Waadt, bürgerlich eigentlich Golay, ist ein Roman über ein Frauenleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es geht darin um verbaute Chancen und verpasste Träume, die viel mit dem Leben von Frauen zu jener Zeit und noch viel mehr mit dem damaligen Generationenkonflikt zwischen Müttern und Töchtern zu tun haben. Mütter, die ihre Töchter behüten und daran hindern, eigenständig zu werden, künstlerische Ambitionen – das Musizieren, Malen, Schreiben – zum Zeitvertreib degradieren und ihre zur Bravheit und Angepasstheit erzogenen Mädchen in die Konformität drängen, weil sie es selber nicht anders kennen: eine Tätigkeit als Bürohilfe oder Vorzimmerdame, bis Heirat, Mutter- und Hausfrauendasein das bezahlte Arbeitsleben vorzeitig beenden. Rezensentinnen bezeichneten Rivaz’ Roman nach dessen Veröffentlichung als «herausragendes Dokument weiblichen Lebens».

Ich dagegen: ein Mann, geboren 1979, in jenem Jahr, in dem das Buch unter dem französischen Originaltitel «Jette ton pain» erschienen ist, «Wirf dein Brot», ein Bibelzitat, gemünzt auf Rivaz’ religiös-konservative Mutter, um deren Alter Ego sich der schnörkellos geschriebene Roman letztlich dreht. Die Handlung ist schnell umrissen: Zwei Nächte lang liegt Christine, die 56jährige Protagonistin der autobiographisch geprägten Erzählung, schlaflos im Bett und grübelt über ihr Leben nach, gequält von der Sorge um die pflegebedürftige 84jährige Mutter im Nebenzimmer und noch mehr vom Schuldgefühl, ihr nicht zu genügen. Rivaz, die nicht nur zu den bedeutendsten Westschweizer Autorinnen zählt, sondern auch als Frühfeministin gilt, hat sich dem Anpassungsdruck ihrer Zeit mit rebellischer Verve widersetzt und damit frontal Positionen gegen ihre Mutter bezogen: Sie verweigerte die Konfirmation, heiratete nie, bildete sich am Konservatorium zur Pianistin aus und begann, angestiftet vom Schriftsteller Charles-Ferdinand Ramuz, mit dem Schreiben. Doch dann holt die Autorin die Familiengeschichte ein, die sie im Roman «Schlaflose Nacht» zum Thema macht: Der Tod ihres Vaters Paul Golay, eines Lehrers und späteren Herausgebers des sozialistischen Blatts «Le Grutléen», der von 1925 bis 1944 für die Waadtländer Sozialdemokraten im Nationalrat sitzt, zwingt sie 1951 dazu, ihre kranke und pflegebedürftige Mutter in ihre Genfer Zweizimmerwohnung zu holen, in der sie 60 Jahre lang bis zu ihrem eigenen Tod 1998 ununterbrochen lebt. Dort pflegt Alice Rivaz ihre Mutter sieben Jahre lang, zuletzt am Sterbebett, und notiert Sätze in ihr Notizbuch, die später in ihrem Roman vom gnadenlosen Zahn der Zeit erzählen, der an uns nagt, bis wir nur noch Knochen sind: «Das Alter wird dich so stark verändern, dass allmählich ein Mensch aus dir wird, der von dem, der du jetzt bist, ebenso verschieden ist, wie deine alte Mutter heute verschieden ist von der Frau, die sie in dem Alter war, das du nun erreicht hast.»

Ich dagegen: ein Kind der 1990er Jahre, das nie zu rebellieren brauchte. Meine Mutter hätte mir sogar die Cannabispflanzen gegossen, hätte ich welche gehabt. Meine Eltern haben meine Schreiberei selbst dann noch unterstützt, als mein Mathematiklehrer nur noch dank guten Willens und Aufrundens eine Eins unter meine Prüfungen setzen konnte. Zudem haben bislang weder mein Vater noch meine Mutter Pflege nötig, und wenn, kommen sie in die professionelle Obhut eines Heims. Trotzdem lassen sich mit Alice Rivaz in der Dunkelheit der Nacht dunkle Gedanken teilen. Wie ihr gesamtes Werk, so dreht sich auch ihr letzter Roman «Schlaflose Nacht» im Kern um geschlechterübergreifende und zeitlose Themen: das Scheitern der Liebe, schrumpfende Möglichkeiten im wachsenden Alter, das Sterben und den Tod – und um die Einsamkeit, die jeder und jede in sich findet, horcht sie oder er nur tief genug in sich hinein. Aber auch die Einsamkeit, die man als Kind seinen alternden Eltern zumutet. Ich jedenfalls.

«Wie leicht und lebhaft waren damals jene Schritte, die um ihr Kinderbett herum eine Welt ohne Leiden und Gefahren schufen – Füsse, die jetzt mühevoll auf den Teppich des grossen Zimmers aufgesetzt werden», steht auf der ersten Seite von Rivaz’ Roman, der jetzt zerlesen neben dem Bett liegt. Es ist kurz nach zwei Uhr in der zweiten schlaflosen Nacht. Ich zähle bisher sieben vollzogene Geschlechtsakte auf der Schaukel, eine Schlägerei mit Polizeieinsatz und mindestens ein Dutzend Besoffene, die rumbrüllen, was Nüchterne nicht einmal zu denken wagen.

Der Lärm vor meinem Fenster hält mich wach beim Grübeln über mich, meine Eltern, meine Schwestern und meine Grossmutter, inzwischen 87 Jahre alt und so gequält von ihrem kaputten Rücken, dass sie mir vor einigen Wochen die Abdankungsrede für ihre Beerdigung diktierte. Warum besuche ich sie nicht öfter, ebenso wenig wie meine Eltern? Weil mir Selbstverwirklichung wichtiger ist als meine Familie. Ist das undankbar, kaltherzig?

Kürzlich, auf einer Reise durch Kolumbien, besuchte ich Medellìn und lernte Marta kennen. Marta war 30, Künstlerin, hatte dasselbe Konzert besucht wie ich, und als ich ihr nach der Veranstaltung im Gedränge vor dem Teatro Pablo Tobón Uribe erzählte, ich sei Journalist, lud sie mich in den Parque del Periodista auf einen Drink ein. Wir gingen die paar Häuserblocks vom Konzertlokal in den Park zu Fuss, und auf dem Weg berichtete sie mir, dass sie in einem Fastfood-Lokal jobbe und trotz Stipendium keine Zeit für ihre Musik habe, weil sie sich um ihre Mutter kümmern müsse, die nach einem Hirnschlag Pflege brauche. An der Bar fragte ich sie dann, warum sie das tue. Marta schaute mich verständnislos an. «Sie war für mich da, als ich klein war – und ich bin da für sie jetzt, wo sie krank ist», antwortete sie in verstörender Selbstverständlichkeit, bevor sie sich auf den Heimweg zu ihrer Mutter machte. Was für ein Gegensatz dazu dann das, was eine Zürcher Kollegin halb spasseshalber, halb ernsthaft zu mir sagte, als ich nach meiner Rückkehr aus Martas Geschichte erzählte: «Meine Eltern sind entfernte Verwandte, ich habe sie aus meinem Leben entfernt.»

Christine, Alice Rivaz’ Romanfigur, verschwendet sich nicht erst an ihre Eltern, als die Mutter zum Pflegefall wird. Schon als junge Frau fährt sie jeden Samstag von Genf zu den Eltern nach Lausanne, um ihnen bis Sonntagabend Gesellschaft zu leisten. Sie entscheidet sich gegen die Zeit mit ihren Bürokolleginnen, mithin gegen Amüsement, Tanz und Flirt. «Was für ein gutes Kind, was für ein Engel», loben sie Verwandte und Bekannte ihrer Eltern. «Zum Teufel mit dem Engel», denkt Christine zu Beginn des Romans, aber nicht zu Beginn ihres Lebens – was sie dann Jahrzehnte später in ihren schlaflosen Nächten bereut: «Damals sträubtest du dich nicht, wie du dich jetzt gegen deine arme Mutter auflehnst, die dir deine gesamte Freizeit stiehlt, die deine Freizeit immer mehr in Anspruch nehmen wird, während du etwas spät feststellst, dass dies der
gegebene Zeitpunkt ist, um dich ans Schreiben zu machen, auch wenn dein Leben zu vier Fünfteln abgelaufen ist und du auf der Schwelle zu jenem Alter stehst, dessen verheerende Auswirkungen du mit Schrecken bei deiner Mutter beobachtest.»

Es gab einen Moment in meinem Leben, in dem ich meine Arbeit, meine Selbstverwirklichung so atemlos vorantrieb, dass sie zum rasenden Stillstand führte, zur völligen Vernachlässigung meiner Familie, meiner Freunde, zu einer zerbrochenen Beziehung: im Angesicht des Todes meines besten Freundes, der mit 37 Jahren an Krebs starb. Alice Rivaz erzählt nicht vom plötzlichen Sterben, sondern vom schleichenden Verlust an Möglichkeiten, von der Verengung des Lebens mit jedem neuen Altersjahr, das ihre Romanheldin nicht nur bei sich beobachtet, sondern auch bei ihrer Mutter. Die Autorin bohrt – mit der dahinplätschernden Beschreibung des körperlichen Zerfalls – die gnadenlose Vergänglichkeit jeden Lebens ins Bewusstsein des Lesers. «Nichts konnte sie ihrer Mutter vorwerfen, nur diese alles verschlingende Liebe, die sie immer daran gehindert hat, sie selbst zu sein, die sie heute noch, fast gegen ihren Willen, dazu treibt, allen Wünschen der Mutter nachzukommen», lässt Alice Rivaz Christine konstatieren, mäandrierend zwischen Liebeserklärungen an ihre Mutter und kaum verhehlten Hasstiraden. Ein Spiegelbild der kranken Mutter, einer Frau auf der Kippe zum Krüppel, die Rückenwirbel eingeklemmt, von Schmerzen gemartert, zwischen Selbstüberschätzung («Geh! Du störst mich! Los, geh schon!») und der Hilflosigkeit ihres gebrechlichen Daseins schwankend («Mein armer Rücken! Oh, mein Rücken! Bitte hilf mir doch, Christine!»).

So unberechenbar wir waren als Kind, so launisch wie in der Pubertät, so unberechenbar und launisch können wir im Alter werden, das weiss ich nicht nur aus diesem Buch, sondern auch aus der eigenen Familie. Alice Rivaz’ Roman ist deshalb ein Plädoyer, sein Leben zu verwirklichen. Und sich dabei nicht zu scheuen, rücksichtslos zu sein. Er mahnt aber zugleich zur Fürsorge der eigenen Familie gegenüber – und beschreibt damit ein Dilemma, das sich nicht lösen lässt. Vielleicht, so denke ich noch, bevor der Lärm der Nacht pünktlich um acht Uhr morgens vom Presslufthammer der Strassenarbeiter abgelöst wird, ist Rivaz’ Buch auch zeitloser als eigentlich gedacht, was den Geschlechteraspekt betrifft. Wer wohl wird die Eltern pflegen respektive regelmässig im Pflegeheim besuchen, falls es einmal so weit ist? Ich, der Sohn, der in Zürich und Berlin lebt, oder meine beiden jüngeren Schwestern, die sich in den Nachbargemeinden des elterlichen Wohnorts niedergelassen haben?

Eben.

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