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Jul Dillier (links) und Pino Dietiker, fotografiert von Roman Gaigg.

Planer und Flaneur

 

Lesen, sammeln, Lego spielen: Während meine Schulkameraden ihre Legofiguren dazu verwendeten, Piratenschlachten, Burgbelagerungen, Indianerüberfälle nachzustellen, wollte ich immer nur Häuser bauen, möglichst grosse, möglichst hohe, eine ganze Stadt sollte es werden. Stundenlang durchwühlte ich meine Kisten auf der Suche nach den Bausteinen, die ich zur Umsetzung meines Plans benötigte, und während mir die quaderförmigen Bauklötzchen mit ihren Kunststoffnoppen immer wieder ausgingen, liess ich die vorgefertigten Beinpaare, Rumpfblöcke, Kopfkugeln verstauben, setzte sie nie zu jenen menschenähnlichen Spielfiguren zusammen, die meine Schulkameraden zum Leben erweckten. Ich wühlte und baute, bis ich mich nach getaner Arbeit auf den Fussboden legte und meine Türme von unten fotografierte, aus der Froschperspektive, um sie höher wirken zu lassen.

Turmstadt, Hochfinanzmetropole, in der Haupteinkaufsmeile hat Strassenmusik Konjunktur, eine Klarinette und eine Zieh­harmonika legen zerdehnte Seufzer zwischen die Kaufkräftigen, elegische Krisenakkorde, Generalbass der Globalisierungsverlierer, Kapitalmoll, das sie dem Freihandelstenor der Grossbanken entgegenhalten, am Marktplatz sind die Bettler zu Skulpturen erstarrt, Marienfiguren, die den Tod Christi beweinen, Luftballonverkäufer zwischen den Wolkenkratzern, sie verkaufen Wachstumsblasen, zum Platzen verdammt. Die Stadt ist eine Stadt des Untergangs, Laub allenthalben, hinter den Bankentürmen versinkt die Herbstsonne, Brücken sind die Bögen, die wir über den Todesfluss spannen, am Himmel die Kondensstreifen in ihrer schieren Vielzahl, sie formen das Standbild eines Feuerwerks, eingefrorene Leuchtspuren, die allmählich schmelzen, Sternschnuppen, die langsam verglühen, stetig schwindendes Glück. Auf dem sogenannten Eisernen Steg diese Vorhängeschlösser mit ewigen Liebesversprechen, gibt es Leute, deren Name an derselben Brücke mehrfach steht, die schon mehrere Ewigkeitsschlösser mit wechselnden Partnern an dasselbe Brückengeländer gehängt haben? Und wer taucht nach all den Schlüsseln, die diese Liebeschwörenden auf den Flussgrund werfen, sind das dann die Selbstmörder, die sich aus Liebeskummer von der Brücke stürzen?

Hospiz oder Herberge, Spitzenmedizin, das Stadtspital thront auf seinem Hügel, überragt auch die Kirchtürme, Gesundheit statt Heil lautet das Himmelsschreiben der Ärzteschaft, das Stadtspital ist eine Bergwetterwarte, Fiebermesser prangen auf dem Flachdach, auf dem die Drehflügler landen, die Rettungslibellen, ein kleines h steht für die Höhe, ein grosses H für Hubschrauberlandeplatz, das Stadtspital ist eine Bodenstation, Houston, wir haben ein Problem, lautet der erste Satz eines jeden Notrufs, vor der Tiefgarage des Krankenhauses übt die Betriebsfeuerwehr, ein leuchtoranger Schutzanzug tritt aus dem Sanitätszelt, Karlsson vom Dach mit Propeller am Rücken, füllt sich sein Kostüm mit Luft, droht der Mann abzuheben, Reiseziel Mond, zurück auf der Erde mussten sich die Astronauten der Apollomission in eine siebzehntägige Quarantäne begeben.

Weil ich nicht auf Bäume kletterte, lernte ich bis hundert zählen,

weil ich nicht Pilot werden wollte, begann ich meine Türme zu bauen,

nicht Papa, nicht Baby, Babel war mein erstes Wort .

Mein Fenster geht auf die Badstrasse, die zusammen mit der Bergstrasse ein Quartier namens Babel bildet, viertausend Menschen aus siebzig Nationen erfüllen die zwei Ausfallstrassen mit einem Sprachgewirr, das im Verkehrslärm versinkt. Öffne ich mein Fenster, fahren Linienbusse über meine Bodenmatratze, Lastwagen walzen meinen Schreibtisch nieder, schliesse ich die Isolierscheiben, gleiten Weinbergschnecken hinter dem Doppelglas durch, gehäusetragende Saumtiere, die Feinstaub absondern, auf den Parkfeldern klappen Spitzmäuse ihre Ohrenpaare nach hinten und Babel verjüngt sich zur Muschel, aus der ich das Meer nur als Kind rauschen hörte. Weil ich nicht auf Bäume kletterte, lernte ich bis hundert zählen, weil ich nicht Pilot werden wollte, begann ich meine Türme zu bauen, nicht Papa, nicht Baby, Babel war mein erstes Wort, ich sammelte
alles und stapelte es auf, Legotürme, Kartenhäuser, Bücherberge schossen empor, und wenn sie nicht mehr höher wurden, zertrümmerte ich meine Türme, mein Berufswunsch: Architekt oder Hirnforscher, auf den Bildern in der Kinderbibel war Babel eine Hochzeitstorte, nun aber ist Babel der Traum vom Fliegen in abgetreppter Form, denn wenn mir auch keine Flügel mehr wachsen werden, so lässt sich der Himmel vielleicht stufenweise erklimmen, Babel ist mein Kindertraum, aber wenn sie nicht wahr werden, zertrümmere ich meine Träume.

Wenn ich nicht schlafen kann, frage ich den Mann im Mond um Rat, aber sein Gesicht ist eine ausdruckslose Scheibe, auf der drei Zeiger kreisen, noch siebenmal schlafen, sagen wir einem Kind, das nicht warten kann, was aber sagen wir einem Kind, das nicht schlafen kann? Auf der Bettdecke in meinem Kinderzimmer waren Schafe abgebildet, tausend weisse und ein schwarzes, aber wenn ich nicht schlafen konnte, weideten tausendundein Schaf auf meinen Augenlidern, tausendundein Schaf grasten meine Wimpern ab, es schläft nicht, sagte mein Vater in solchen Nächten, als wäre mein Schlaf Niederschlag, aber schlafe ich denn ein, wenn mein Kopf genügend bewölkt ist, oder muss die Kumuluswolke meiner Grosshirnrinde vor Müdigkeit triefen, damit es Schlaftropfen regnet, damit es Schlafflocken schneit?

Babel heisst Wirrsal, heisst Wirrwarr, ich habe Babel im Kopf und Babel in der Brust, Babel steckt mir im Hals fest, meine Luftröhre ist der Liftschacht des Sprachturms von Babel, meine Wirbelsäule babylonisch und aus Elfenbein geschnitzt, ich bin ein Mammutjäger, ein Stosszahnwilderer, und während Tieflöffelgänse und Schürfkübelschwäne mit Standbaggerzähnen im Baugrubenschlamm gründeln, kreisen Turmkraniche über Babel, ihre Stahlschnäbel drehen mechanisch, sie verladen mit Hubseilen Nistmaterial und der Himmel hängt voller Gehirne, Assoziationsfelder verbinden sich zur Kumuluswolke, Geistesblitze durchzucken die Troposphäre und Wolkenkratzer ritzen Kosenamen in die Grosshirnrinde, der hat doch einen Vogel, sagen viertausend Menschen aus siebzig Nationen und meinen damit: Der hat doch Babel im Kopf.

Ich bin launisch, lunatisch, mondsüchtig, ich gehe auf

und gehe unter, ich drehe mich um die Welt

und zugleich um mich selbst .

Jetztzeit, Echtzeit, Ich-Zeit, überall Ich-Töne, Ich-Kapseln, Ich-Gegensprechanlagen, im Ich-Fingersystem tippen Ich-Menschen auf ihren Ich-Geräten herum, ich sitze im Bus und verschwinde zwischen Ich-Bildschirmen im Westentaschenformat. Auf die Verhirnung des Menschen folgt die Verhirnung der Welt, die Auslagerung der Gehirne an Fingerspitzen, die über Tastschirme gleiten, Digitalisieren heisst: das Denken den Fingern überlassen. Auf Zeitungsseiten und Werbeplakaten, auf jeder zweiten Verpackung prangt ein zerrüttetes Schachbrett, ein gesichtsloser Quadratschädel als Brückenkopf ins zweigeteilte Jenseits, wo es nur Gut und Böse, Eins oder Null gibt. Schwarzbunte Milchkühe weiden in der Stadt, in der früher nur Steppenzebras lebten, fleckige Bauchflächen breiten sich aus, wo früher nur Striche in der Landschaft standen. Schnelle Antworten lassen sich im Kaffeesatz entziffern, die digitale Welt kennt mehr Fingerabdrücke, als sieben Milliarden Menschen an ihren Händen abzählen können. Überall Wertgegenstände, in schwebenden Blöcken versteckt, von unten muss ich sie anspringen, um Münzen einzustecken, Superpilze zu sammeln, die mich in mein Super-Ich verwandeln, oder um den Impfstern vom Himmel zu holen, der mich unsterblich macht, sekundenlang wenigstens.

Ich bin launisch, lunatisch, mondsüchtig, ich gehe auf und gehe unter, ich drehe mich um die Welt und zugleich um mich selbst, Eigenrotation ist ein Symptom für den Wahnsinn, Houston, ich habe ein Problem, ich bin nicht krank, aber verwandt mit der Krankheit, denn mein Urgrossvater ist der Mann im Mond, wer Babel baut, will Gott sein, Babel heisst Grössenwahn im Narrenturm, Bergketten sind Fieberkurven und die Skyline hat eine Zahnlücke, meine Kindheit endete damit, dass die zwei Türme einstürzten, jeder Mensch hat seinen Elften September, jeder Mensch hat seinen Turm von Babel, aber am Ende fallen Bruchstücke in die Tiefe und ziehen Lichtschweife hinter sich her, Gestirne schlagen Mondkrater in den Erdboden, Babel überaltert und das Doppelglas meiner Isolierscheiben birst, ich breche alle Brücken ab und nenne es das Jenga-Problem: Wenn die Zwischenstockwerke zu lückenhaft werden, fällt der ganze Turm zusammen.

Planer oder Flaneur, wer keinen Kopf hat, der hat vielleicht Beine, wer zu viel im Kopf hat, bringt kein Bein mehr vors andere, Konzept oder Erfahrung, Schreibtisch oder Spaziergang, Planer oder Flaneur, doch wenn ich dem Planer die Punze seines Verschlusslauts aufschlitze, sie zu zwei Oberarmen eines Reibelauts ausfransen lasse und wenn ich dazu noch seine deutsche Endung französisiere, geht der Schreibtischtäter auf einmal spazieren, Boulevards statt Bauvorhaben, Passagen statt Wegleitungen.

Lesen, sammeln, Lego spielen: Während meine Schulkameraden ihre Legofiguren dazu verwendeten, Piratenschlachten, Burgbelagerungen, Indianerüberfälle nachzustellen, wollte ich immer nur Häuser bauen, möglichst grosse, möglichst hohe, eine ganze Stadt sollte es werden.

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Stefan Bachmann, fotografiert von Maurice Haas / Diogenes Verlag.
Charlotte Brontë und das Nichts

Sein Debüt wurde in den USA ein Riesenerfolg, da war er gerade 20 Jahre alt. Weniger bekannt ist: Fantasy-Autor Stefan Bachmann ist auch ausgebildeter Musiker. Aber wie kommt jemand überhaupt auf die Idee, zu schreiben oder Musik zu machen?

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