Eine Leiche, die immer schon Gespenst war
Ist der Kanon nun tot oder riecht er bloss? Gero Gantenbein ermittelt.
Sein Name ist Gantenbein, Gero Gantenbein. Schriftsteller und Privatermittler. Er hat eine anerkannte Schreibausbildung durchlaufen (Deutsches Literaturinstitut Leipzig) und einen ehrenwerten Karriereweg eingeschlagen: Statt sich durchs enge Nadelöhr des Belletristikgeschäfts zu quetschen, hat er seine Nische im Rundfunkgeschäft gefunden. Natürlich stellt auch er sich bisweilen bei Literaturzeitschriften unter. Und so versteht er es gut, dass die Zeitschrift «Literarischer Monat» auf ihn zukam, um eine Frage zu erörtern, die die Redaktion seit einiger Zeit umtreibt: «Was haben Moden, Normierungen und Schreibschulen mit dem literarischen Vergessen zu tun?»
Gantenbein denkt sich: «Eine berechtigte Frage, klar, das literarische Vergessen wird in den Literaturredaktionen doch sehr eindrucksvoll durch die Flut an frischen und bereits angestaubten Büchern dokumentiert. Aber warum braucht man einen personifizierten Täter, praktisch einen Erinnerungsmörder, der fürs Vergessen von Autoren sorgt?» Gantenbeins Verwunderung ist berechtigt, ist doch das Vergessen eine viel grundlegendere Konstante der literarischen Produktion als beispielsweise die noch relativ jungen Schreibschulen. Auch literarische Moden sind nicht per se schlecht. So hat ein Hype namens «Sturm und Drang» der Literatur definitiv mehr gebracht als geschadet. Ganz zu schweigen davon, wie produktiv sich Normen und Verstösse gegen sie – siehe Peter Handke und Gruppe 47 – auf die schreibende Zunft auswirken.
Aber da Gantenbein nun einmal als Detektiv in einem ungelösten Mordfall beauftragt ist, beginnt er seine Ermittlungen. Was also haben Moden, Schreibschulen und Normierungen nun mit dem literarischen Vergessen zu tun? Gantenbein kann aus eigenen Erfahrungen schöpfen. Der Raum für Spekulationen ist jedoch gross, weiss er, denn der Literaturbetrieb ist kein überschaubarer Tatort, sondern ein wuseliger Heuhaufen, in dem schon die kleinste Stecknadel bei kluger Anwendung tödlich ist. Gantenbein nagelt sich deshalb fünf Thesen an die Tür seiner Schreibklause, mit denen er sich für seine Ermittlungen in Schwung bringen kann.
1 Kein Grund zur Aufregung
Gantenbeins Gehirn siebt jede Nacht alle Informationen vom Vortag und speichert nur das Relevante. Das rettet ihn, da er nicht gleich nach dem Aufwachen einen Gedankenstrom à la James Joyce schieben muss. Solches Funktionieren-durch-Vergessen hilft nicht nur ihm, sondern der ganzen Kultur. Dass mit dem Erinnern und Vergessen auf individueller Ebene eine Wertung verbunden ist und in der tausendfachen Bündelung daraus ein Kanon entsteht, ist doch der Witz! Klar, es kann für manche blöd laufen, wenn man durch alle Siebe rauscht. Aber wozu die Aufregung? Niemand steuert die eigene Aufnahme in den Kanon. Er wird durch eine unsichtbare Hand gesteuert, den Epochengeschmack quasi. Der ist aber kein Täter, sondern eher ein Phantom. Weshalb die Hypothese auch nicht zutreffen kann, dass der gute alte literarische Kanon getötet wurde. Es handelt sich um eine Leiche, die immer schon ein Gespenst war.
2 Schreibschulen beissen nicht
Es gibt ein Zuviel an Büchern und Autoren, das fürs literarische Vergessen verantwortlich ist. Und nicht nur das, es bringt auch für die Autoren ein Zuviel an Aufgaben mit sich: «Habe ich heute schon getwittert? Habe ich heute schon mit dem Kritiker M. telefoniert?» Der Autor ist zum Eventmanager seiner selbst geworden, und das ist nur ein kleiner Teil seines Aufgabenprofils. Nicht zuletzt darf er nicht in aller Öffentlichkeit Mordgedanken hegen, und er muss, vergessen wir das nicht: Texte schreiben. Und das Unter-einen-Hut-Bringen all dieser Aufgaben wird nun einmal besonders gut an Schreibschulen vermittelt. Trotzdem, so weiss Gantenbein, stehen diese ganz oben auf der «Sündenböcke für die Kanonprobleme der Gegenwart»-Liste. Ja, man macht sie dafür verantwortlich, dass man sich heute keine Bücher mehr merkt. Ihr Vergehen: sie produzieren angeblich eine Flut an Nachwuchsautoren. Obschon der Markt jene Gesellen sehr stark filtert und es Nachwuchsautoren schon immer gab. Gantenbein flucht: «Wenn ihr einen Kanon wollt, müsst ihr sofort diese ganzen ‹Ich bin Hausfrau und will gepeitscht werden›-Romane stoppen!» Die kommen nicht aus Leipzig, Hildesheim oder Biel. Nein, es gibt an Schreibschulen eine grosse Vielfalt an seriösen Texten und Stimmen. Der Mist wird anderswo verbockt. Also nicht die Schreibschulen sind schlecht, sondern die Welt, in der diese Schreibschulen existieren.
3 Moden kommen, Moden gehen, Gantenbein bleibt
Der Kanon hatte noch nie ein Problem damit, die allermeisten Bücher – und nicht nur die modischsten! – im Orkus des Vergessens verzischen zu lassen. Das sollten wir schätzen, findet Gantenbein. Es ist sowieso nicht einfach mit der Mode. Gantenbein verweist auf die klassische Musik: Dort bezeichnet ein kanonisches Werk den Glücksfall, bei dem ein Werk durch eine lebendige Aufführungspraxis über Jahrhunderte hinweg präsent gehalten wird. In der Literatur heisst das, dass ein Werk über diese lange Zeit hinweg von Menschen gelesen wird, dass sie ohne Ende darüber sprechen. Auch das ist eine Mode: immer wieder Beethovens Neunte aufzuführen. Auch der literarische Kanon wird in Zukunft immer wieder neu geschrieben werden – und zwar hoffentlich aufgrund einer lebendigen Lese- und Interpretationspraxis. Aber selbst dann noch bildet der Kanon nur die Mode einer bestimmten Zeit ab. Eine Mode freilich, die übergeordnet ist, gefiltert sozusagen, und die deshalb auf einer höheren Stufe steht; nach ihr kann man nicht schielen, sie kann man nur im Nachhinein rekonstruieren.
4 Normierung wird überbewertet
«Schreiben denn heute wirklich alle gleich», fragt sich Gantenbein, «und nicht nur an den Schreibschulen, was ja ihr Vergehen sein soll? Oder schreiben alle zunächst ganz eigen und werden dann im Lektorat gleichgemacht, so dass das Lektorat Normierungsanstalt heissen müsste?» Beides erlebt Gantenbein so nicht. Natürlich hat auch er seine unverwechselbare literarische Handschrift. Das ist ja sein Ticket für die Kanonlotterie. Doch da ist niemand, der ihn normieren will; der Rundfunk lässt ihm freie Hand bei seinen Vorschlägen für Hörspiele und Features, und seine Buchmanuskripte werden akzeptiert oder nicht – aber nicht erst akzeptiert und dann normiert. «Wenn wir eine so lebendige Gegenwartsliteratur wie heute haben», denkt sich Gantenbein, «kann sich Normierung einfach dadurch ergeben, dass wir aktueller schreiben, schneller, journalistischer, flotter. Diese Schreibe stellt sich aber automatisch ein, sie wird kulturell vermittelt, wie unsere zeitgenössische Sprechweise. Die Schreibschulen fordern diese Normierung nicht ein, der Witz ist ja sogar, dass sie Platz für stilistische Nischen lassen, die jedoch in der allgemeinen Diskussion nicht beachtet werden. Ein Teufelskreis!» Es macht keinen Sinn, findet er, ständig beleidigt tausend kleine Kafkas einzufordern oder herstellen zu wollen.
5 Es ist alles noch viel schlimmer, und das ist gut so
Der jährliche Output der Verlage übersteigt jedes verdaubare Mass, und auch der Rundfunk produziert zu viel unerhörtes Programm. Darum ist literarisches Vergessen heute wichtiger als früher. Gantenbeins Situation gleicht dabei einer Horrorkulisse, in der sich zu viele Raubtiere um zu wenige Futterplätze balgen und sich am Ende gegenseitig zerfleischen. Ab und zu kommt der Grosswildjäger Kritikus daher und hält mit der Flinte drauf. Wer ist also der Mörder der Erinnerung? Dieser etwa? Nein: niemand! Gantenbein weiss: «Wer sich schon zu Lebzeiten zur Leiche stilisiert, indem er wild dem Massengeschmack frönt und dann über Nichtbeachtung durch die Feuilletons klagt – oder wer umgekehrt seine Edelschreibe als der Gegenwart in Ewigkeit enthoben verkauft, obwohl der olle Kanon noch gar nicht über ihn richten konnte –, darf nicht auf die Nachwelt hoffen. Wenn schon, dann ist der Markt der Täter, diese Schwemme an Hausfrauenerotik oder grausamen Morden in Urlaubsgegenden – nicht der Kanon oder die Mitmenschen. Moden, Normierungen und Schreibschulen haben nichts mit dem literarischen Vergessen zu tun. Diese Begriffe vertuschen doch nur, dass es gar keinen Mord gibt. Oder dass ihn allenfalls ganz andere Täter begehen: wir alle. Wir müssen uns mit einem durchaus religiösen Gefühl auf die Ankunft des Kanons gedulden – und so lange dafür sorgen, dass wir nicht zu viel Müll produzieren.»
Richtig, Gero Gantenbein. Fall gelöst! Und wenn niemand glaubt, dass auch du einmal in den Kanon kommen wirst – nur weil du eine Schreibschule besucht hast, alle heute irgendwie gleich schreiben und das, was heute geschrieben wird, sowieso vergessen wird –, dann halte mit Trotz dagegen. Trotz ist die Mutter des Erinnerns und Vergessens: «Wir sehen uns im Kanon, ätsch!»
Jan Decker
ist freier Schriftsteller und Essayist. Sein neuester Roman «Der lange Schlummer» erschien im Juni in der Edition 21, Thun. Decker lebt in Osnabrück.