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Amalia

Eine düstere Kurzgeschichte darüber, was hinter den geschlossenen Vorhängen der Schweiz vor sich gehen kann.

Amalia
Illustration von Andrea Fischer Schulthess.

«Buebeli, meine Windel!» Edouard löst sich vom Fenster und geht zum Bett. Je näher er kommt, desto schärfer sticht ihm der Ammoniakgeruch in die Nase. Er zupft zwei Einweghandschuhe aus der Kartonbox auf dem Nachttisch und nimmt die Nackenrolle vom Kopfende des Bettes – Daunenklumpen, zusammengehalten durch Schweiss und Satin. Ohne hinzuschauen, schiebt er seine Hand unter das Häufchen Mensch. Haut verrutscht zwischen seinen Latexfingern. Geübt hebt er Mutters Becken an, das auf der lahmen Seite viel schwerer liegt, und schiebt die Rolle unter ihren Steiss.

Als er die Klettverschlüsse der Windel löst und das uringetränkte Rechteck unter der Mutter wegzieht, atmet er durch den Mund. Mit Feuchttüchern säubert er die Vulva, dann drückt er sich einen Klecks Salbe auf den linken Handschuh, schmiert ihn über Scham und Hintern der Mutter und windelt sie frisch ein.

Trübe Flüssigkeit läuft ihr aus den Augen und sickert in ihr Haar. Sie grochst wohlig, als sie sich in die Matratze zurückwiegt, in die Kuhle hinein, die sie seit dreiundzwanzig Monaten und siebzehn Tagen umfängt. «Du könntest wirklich sanfter sein mit deinem armen Muetti, Buebeli. Wenn ich daran denke, wie lieb ich dich jeweils gewickelt habe. Und dir Liedlein gesungen. Immer. Du warst ja so ein süsser Bub.»

Edouard überhört, wie ihr Lamento in röchelndes Husten übergeht. Rasch geht er zum Fenster und öffnet es, senkt kurz den Kopf, schaut über die Strasse. Ein knappes Nicken nur.

Noch bevor sich die Mutter über den Durchzug beschweren kann, hat er bereits die Türe zu ihrem Zimmer hinter sich geschlossen. Als er die offene Treppe hinabsteigt, spürt er die Mutter noch immer im Rücken.

Er schaut auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es ist zu früh.

Eins tiefer, im ersten Stock, nimmt Edouard wie immer das Babyphone aus der Halterung an der Wand. Mit einem Klacken lässt er den Drehknopf auf Kanal B einrasten. Das weisse Plastikkästchen rauscht und knistert, die Mutter schweigt.

Vielleicht döst sie schon, denkt er. Legt seinen Kopf auf die Schulter, einmal nach links, einmal nach rechts, bis es knackt. Drückt den Kopf in den Nacken und die Brust nach aussen. Atmet die Enge weg.

Er steigt weiter die freischwebenden Stufen hinab, direkt auf die Fensterfront des Wohnzimmers zu. Hinter den Scheiben dehnt sich der Himmel weit in die Dämmerung hinein und auf das Nachbarsdach hin­ab.

Edouard weiss, dass er nicht hinsehen darf. Nicht einmal an ihren Namen denken, der leise in ihm pocht.

Amalia.

Noch nicht. Er will das Wort nicht verschwenden, bevor sein Körper rein ist und bereit.

Der unstillbare Hunger verschlingt ihn, frisst und gebiert sich selbst. Tag für Tag.

Die Gewissheit, dass sie dort unten ist, atmet und lacht, umfängt Edouard dennoch warm und tröstend.

Rasch dreht er sich vom Fenster weg und betritt die Küche auf der Rückseite des Hauses. Er holt die Butter und etwas Greyerzerkäse aus dem Kühlschrank, schneidet zwei Scheiben aus dem Laib Brot, den er aus dem geblümten Brotsack hervorholt, und legt alles auf einen Teller. Krumen bleiben an seinen feuchten Händen kleben. Er reibt sie an den Seitennähten seiner Manchesterhose.

Wenn er wollte, könnte er jetzt rauchen. Als die Mutter noch hier unten fuhrwerkte, hatte sie oft moniert, Rauchen sei etwas für Männer ohne Er-wisse-schon-was. Sie als Dame könne das unmöglich aussprechen.

Zu ihrer Zeit hatte es hier nach Sandelholzsplittern und angeschimmelten Orangenscheiben gerochen. Die Mischung hatte in der Porzellanschale mit dem Gitterrand gelegen, der ihn an glasierte Brezeln erinnerte und von dem er so gerne einmal ein Stückchen abgebissen hätte. Er hatte das Krachen schon in den Ohren gehabt, sich den Zucker auf der Zunge vorgestellt, seine Süsse geschmeckt und die scharfen Kanten am Gaumen gespürt. Zugebissen hat er bis heute nicht. Geraucht schon. Angefangen hatte er an jenem Nachmittag, an dem sich ein Blutklümpchen in Mutters Hirn eingenistet und sie und ihr endloses Gerede in ihr Bett unter dem Dach verbannt hatte.

«Kent.» Wie Vater sie geraucht hatte, als er noch ab und zu heimgekommen war von seinen «Reisen auf den Meeren der Welt», wie er es nannte. Als Junge hatte Edouard geglaubt, Vater sei Kapitän auf einem Hochseeschiff. Dass er bloss Maschinist gewesen war, sollte er erst Jahre später erfahren – an jenem Morgen, als Vaters Uhr auf dem Küchentisch gelegen hatte, darunter ein Zettel mit einer kurzen Notiz. Heb de Muetter sorg. Vatter.

Da hatte Mutter das letzte Mal über ihren Mann gesprochen und Edouard gedacht, dass sie wohl doch keine richtige Dame sei.

Mit dem ersten Qualm hatte auch Edouards Welt sich ausgedehnt. In den Tagen danach hatte er alles, was sich ausserhalb von Mutters neuer Reichweite befand, in Abfallsäcke gestopft und jeden Quadratzentimeter des Hauses mit Scheuermittel geschrubbt. Weshalb er dabei geweint hatte, still und stetig, hätte er nicht sagen können, selbst wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Seit seiner Pensionierung war Mutter ohnehin der einzige Mensch gewesen, der ihm noch Fragen stellte.

Die Gitterschale blieb. Er hatte sie eingeschäumt und mit viel heissem Wasser ab­gespült. Reingebissen hatte er nie, aber seine Zigaretten in ihrer glatten Mitte ausgedrückt.

Edouard stützt sich auf den Tisch und wuchtet sich seitwärts auf den gepolsterten Plastikhocker in der Nische dahinter. Sein Gewicht presst die Luft aus den mürben Schaumstoffbläschen, bis die Holzplatte darunter gegen seine Sitzbeinhöcker drückt. «Actio gleich Reactio», denkt er, auch wenn er längst keine drögen Halbwüchsigen mehr damit plagen muss. Sie fehlen ihm nicht. Der Abschied am Lyceum war mager gewesen, der Umzug zur Mutter folgerichtig: hinfälligere Körper, kürzere Wege, gesparte Miete. Gleichbleibende Stille.

Edouard rückt seinen Teller exakt an die Mitte der Tischkante. Die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, bestreicht er die beiden Brotstücke. Drückt fingerdicke Scheiben Butter mit dem Messer so fest hinein, dass die Kruste mit einem Quietschen über den Teller rutscht, und legt je drei Lagen Käse obenauf. Dann wirft er eine Handvoll Zuckerwürfel in die Kanne mit Pfefferminztee, die er am Mittag zum Abkühlen bereitgestellt hat. Die Möcklein zerreissen die schillernde Haut obenauf und saufen ab. Edouard verrührt sie mit dem Griff seines Messers, geduldig, bis es nicht mehr knirscht, und schenkt sich einen Becher voll ein. Er will es Mutter erzählen, ihr sagen, welche Verschwendung er sich gönnt, seit das Gerinnsel ihr die Wucht genommen hat. Er weiss, dass er es nie tun wird. Zu anstrengend. Actio gleich Reactio.

«Sorgfältig rangiert er die Lokomotive, eine Krokodil Ce 6/8 II, mit ihren vier Waggons in den Bahnhof von Airolo und nimmt ihnen den Strom. Dann schabt er die Krümel vom Strickjackenbauch in seine Hand, öffnet das Fenster zur Strasse hin und streut die Brosamen in den Rhododendron.»

Vorsichtig trägt Edouard Teller und Tee ins Wohnzimmer hinüber. Der Himmel hat nun fast alle Farbe verloren. In der blauen Stunde steckt die Zeit fest. Das Ticken der Uhr im Wohnzimmer tropft auf die immer gleiche Stelle und will ihn nicht vom Warten erlösen.

Edouard stellt sein Abendessen an den Rand der aufgebockten Holzplatte mit dem Gotthardmassiv. Er nimmt einen Bissen vom Käsebrot und fährt den Trafo hoch. Die Lichter gehen an. Ein Züglein löst sich aus dem Bahnhof und surrt fleissig über die verschiedenen Schienenabschnitte, von denen keiner länger ist als eine Zigarette. Während Edouard kaut und schluckt, beisst und kaut, gleiten die Waggons am Kirchlein von Wassen vorbei, dessen Zifferblatt wie immer fünf nach neun anzeigt, und in den ersten Kehrtunnel hinein. Dort schrauben sie sich den ausgehöhlten Styroporblock hoch und kommen nach dem Wendetunnel ein gutes Stück weiter oben wieder zum Vorschein. Edouard hält mit Kauen inne, bis das Bähnchen vor seinen Augen ein letztes Mal ein- und wieder auftaucht, bevor es auf geradem Weg durch das Gebirgsmassiv nach Airolo fährt. Das Tessiner Dorf liegt hier nicht wie in der Realität im Süden der Schweiz, sondern im Westen. Eine Abweichung, die Edouard seit jeher stört, doch die Platte mit dem Gebirge passt nur in der Diagonalen in den Raum.

Sorgfältig rangiert er die Lokomotive, eine Krokodil Ce 6/8 II, mit ihren vier Waggons in den Bahnhof von Airolo und nimmt ihnen den Strom. Dann schabt er die Krümel vom Strickjackenbauch in seine Hand, öffnet das Fenster zur Strasse hin und streut die Brosamen in den Rhododendron. Er schaut auf seine Hände, gestattet sich noch immer keinen Blick nach drüben. Rasch riegelt er die Abendkühle weg und bringt Teller und Becher in die Küche, wo er beides sofort spült und neben den Suppennapf der Mutter stellt. Er trocknet sich die Hände. Sie werden gleich wieder feucht. Wie immer, so kurz bevor die Kirche hinter dem Haus erst viermal dunkel und dann neunmal heller schlägt und die Zeit wieder zum Laufen bringt. Wie immer, wenn sein Zug in Airolo oder Göschenen ruht, das Massiv im Wohnzimmer still liegt und er die Treppe in den ersten Stock hinaufsteigen darf. Wie immer, wenn der Tag endlich abfliesst und Edouard erwacht.

Am Treppenabsatz schaltet er das Babyphone aus und steckt es zurück in die Ladestation. Der Drache schläft. Es passiert nichts, sagt er sich.

Er öffnet die Türe zum Etagenbad. Es liegt gleich neben dem Raum, der einst Vaters Reich war und nun im Dunkeln auf ihn wartet.

Das Badezimmer ist noch immer mit Kacheln ausgekleidet, die aussehen wie quadratische Pfannkuchen mit versengten Rändern. Sie sind das Letzte, was hier drin von Mutter übrig ist. Als sie im Haus noch über jeden Winkel wachte, hing hier der Duschvorhang mit sepiafarbenen Lilien und einem Saum aus Stockflecken und vor dem Fensterchen ein gehäkelter Streifen Anstand. Wie fast alles, was Mutter in den Jahrzehnten seit Vaters Verschwinden angeschafft hatte, stammte das Vor­häng­lein aus dem Versandkatalog mit den Haushaltsartikeln und den Gesichtsmassagestäben, deren Funktion er nie verstanden hat. Was sie nicht bestellen konnte, musste er für sie besorgen: Roggenbrot, Damenbinden, Fendant in Literflaschen, Klosterfrau-Melissengeist, Milchnussschokolade und Heftromane mit schönen Ärzten.

Nach dem Schlaganfall hatte er so viel Mutter aus dem Bad entfernt, wie er konnte. Auch die Entenfamilie aus Porzellan, die er als Kind nicht anfassen durfte, die ewigfeuchte Badematte und das «Sie & Er»-Badetuchset, das in Folie eingeschweisst an der Chromstahlstange verstaubte. Der Odor von Schimmel und Lavendel aber sass noch immer in den Fugen. Sobald die Mutter endgültig aufhören würde, das Haus lahmzuatmen, würde er auch die Fliesen ersetzen.

Edouard zieht sich aus, faltet Hose, Hemd und Leibchen und legt sie auf den Deckel des Klos. Sobald er in der Wanne sitzt, lässt er heisses Wasser über die schmerzende Wölbung auf seinem Rücken rieseln, über die Schultern und den Bauch, den er nie anschaut. In seinem Kopf ist Edouard nicht schlaff und bucklig.

Rasch wickelt er sich in seinen schwarzen Morgenmantel, schnallt sich Vaters Militärgürtel um den Bauch. Dass er nie einen eigenen bekommen hat, hat der Alte gottlob nie erfahren. Faule und Krüppel – nichts hatte der mehr verachtet.

Edouard wischt mit beiden Händen den Dampf vom Spiegel und streicht sich die Haare glatt. Er reckt sein Kinn, bis die Haut am Hals sich straff zum Unterkiefer hin spannt. Jetzt ist er ganz Mann.

Nur so darf er den Raum betreten.

Im Flur neben dem Bad bückt er sich zu der Kartonschachtel auf dem Boden, klemmt sie sich unter den Arm, denkt sich aufrecht und gross.

Auf der Schwelle hält Edouard inne, tastet nach dem Hauptschalter. Sieben Kugeln aus Salzkristall leuchten auf. Eine bunte Lichterkette blinkt um ein Bild, das an der Zimmerwand lehnt. Sie. Amalia. Körnig, aber unverkennbar. Edouard hat sie mit einem Teleobjektiv vom Wohnzimmer aus aufgenommen. Sie steht auf der anderen Strassenseite, gedankenverloren lehnt sie an der Backsteinwand neben der Haustüre, die Hände zwischen Rücken und Mauer geklemmt. Unmittelbar daneben ihr rosarotes Fahrrad. Amalias Blick ist auf etwas gerichtet, das weit hinter der Kamera liegt, vielleicht tief in ihr selbst. Ihr Haar fällt auf die Schultern. Sie sieht verletzlich aus. Und traurig schön. Wie in einem Film, denkt Edouard.

Ein paar Atemzüge lang betrachtet er das Bild vom Türstock aus und lässt die Wärme sich in seinem Leib ausbreiten, dann macht er feierlich die sieben Schritte bis zur Wand. Mit der freien Hand entfernt er das benutzte Papiertaschentuch, das in der Mitte eines schwarzen Samtkissens vor dem Foto liegt, flankiert von zwei goldenen Kerzen. Er platziert es auf dem Kiefernholzregal in der Ecke. Neben zwei Steinen, einem Handschuh, vier Bonbonpapierchen, einem zerkauten Kaugummi, einem grünen Wollfaden und dem abgebrochenen Stück einer Haarspange, das er besonders liebt.

Illustration von Andrea Fischer Schulthess.

Edouard stellt sich vor das Bild, die Schach­tel auf den ausgestreckten Handflächen. Er verneigt sich. Dann zündet er die beiden Kerzen an, nimmt den Deckel der Schachtel ab und legt ihn ebenfalls auf das Regal. Behutsam hebt er den toten Rotschwanz heraus, den Amalia ihm heute gezeigt hat. Seine bläulichen Lider sind bis auf einen Spalt geschlossen. Darin eingebettet ruhen wie Wacholderbeeren die Augäpfel. Zärtlich fährt Edouard mit dem Finger über das Gefieder am Bäuchlein, streicht vom Schnabelansatz bis zum roten Schwanz hinab und wieder hinauf, lässt Feder um Feder zurückgleiten, starrt auf die graue Haut unter den Daunen. Nun hebt er den Vogel auf das Samtkissen.

Edouards Mund ist leicht geöffnet, so dass die Lippen sich nur noch an der Spitze berühren, mit der die Oberlippe sich in ihrer Mitte nach unten wölbt. Wie bei Mutter. Er verneigt sich abermals vor dem Bild, bevor er zur schwarzen Leder-Chaiselongue am Fenster geht und sich hineinlegt. Endlich gestattet er sich, das Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse zu betrachten.

Die Strassenlaterne, an der das rosa Fahrrad lehnt, scheint auf eine Backsteinfassade mit vier kleinen Fenstern. Jenes ganz links aussen ist von innen hell erleuchtet. Neun Uhr fünf. Edouard spürt ein hartes Klopfen hinter dem Brustbein. Schnauft. Harrt.

Eine schmächtige Gestalt tritt an die Scheibe und hebt ihre Hand zu einem für Edouard unsichtbaren Knopf. Heute trägt sie das buttergelbe Nachthemd mit den Puffärmeln.

Die Jalousie ruckelt nach unten, nimmt ihr erst Kopf, dann Rumpf und Beine und drückt zuletzt den Lichtspalt weg. Edouard schliesst die Augen. Hält das Bild in sich fest, bis er nur noch orangefarbene Quallen sieht, die hinter seinen Lidern pulsierend ihre Bahnen ziehen.

Ohne hinzuschauen, tippt er mit dem Zeigefinger auf die Fernbedienung neben sich. Die Akkorde von Rimski-Korsakows «Scheherazade» füllen den Raum. Das Meer und Sindbads Schiff. Als die erste Violine einsetzt, öffnet Edouard seinen Morgen­mantel und schliesst die Augen. Dieses Lied würde er mit Amalia teilen. Bald. Er würde sich mit ihr auf seinem Meer davontragen lassen. Weg von all dem hier.

In seinem Kopf treibt er bereits mit ihr auf den Wogen, ist nicht mehr in diesem Zimmer, diesem Raum, diesem Leben.

Erst ist es nur ein sachtes Stören, ein Grummeln am Horizont hinter der Krümmung seiner Welt. Doch dann dringt es zu ihm durch, frisst sich in seinen Film, sengt ihn an.

«Bbbli! Hlf! Bubbbliii!»

Er öffnet die Augen.

Mutter!

Edouards Herz krampft, presst Blut in Hals und Kopf. Er schnellt auf, fummelt nach den Schössen seines Morgenmantels, die Hände fahrig.

Nur widerwillig spannt sein Rippenkasten die schwammige Schicht aus Haut, Fett und Nerven von innen her wieder auf und lässt Luft einströmen. Jede Rille an Händen und Füssen füllt sich mit Schweiss, sein Hals und die Wangen sind heiss, die Zunge schwillt dick gegen den Gaumen. Das alles dauert nur einen Pulsschlag, ein Ticken auf Vaters Uhr, die er Tag für Tag aufzieht, so dass er Schwielen an den Kuppen von Daumen und Mittelfinger hat, die er jetzt hektisch aneinander reibt – so wie ein Käfer seine Chitinbeinchen gegeneinander schabt, bevor er abhebt.

Es fühlt sich ewig an.

Edouard starrt auf die Frau, die Mutter, die sich mit ihrer gesunden Hand und dem Ellbogen über die Schwelle des Zimmers zu schleppen versucht. Das muss ein Trugbild sein. Ist nicht möglich. So was kann sie nicht mehr. Und doch hört er sie: «Bubbbliii!»

Edouard sammelt Spucke, Wut und Worte, doch nur ein Flüstern findet aus ihm heraus. «Mutter.»

Mehr ist da nicht.

Die Mutter ist auf den Bauch gesackt. Liegt auf dem Teppich. Amalias Teppich. Sie ragt zur Hälfte in den Raum, ihr unterer Leib liegt noch im Flur. Sie ist erst halb drin, denkt Edouard, erst halb.

Der Mund der Mutter ist schräg. Verschoben. Geifer hängt im unteren Winkel, dehnt sich zu einem Faden, der unmittelbar über dem Teppich zittert, ihn besudeln will. Nun endlich kann Edouard sich rühren. Er rupft ein Kleenex aus der Box und stopft es zwischen Haut und Boden. Edouard kniet mit zusammengeklemmten Oberschenkeln vor Mutters Kopf, damit sie nicht zwischen seine Beine schauen kann. Sie darf nicht hinsehen. Nicht hier sein.

«Mutter! Was um Himmels willen machst du hier unten? Du hättest dich verletzen können.»

Ein Mus aus Speichel und viehischen Lauten blubbert aus der Grotte im Gesicht am Boden. Erst jetzt bemerkt Edouard ihr rechtes Augenlid, das schlaff über der Pupille hängt. Blöd sieht das aus, denkt er. Richtig blöd. Das linke Auge aber starrt auf Amalias Bild, die Lichterkette, die Kerzen, die Liege. Auf ihn, scharf und klar.

«‹Kran…kch›, tönt es vom Bett, ‹krrrk.› Edouard erhebt sich und geht zu der Mutter hinüber, kniet sich neben ihrem Kopf auf den Bettvorleger. ‹Du… pfui›, brabbelt aus ihr heraus. Das eine Auge glotzt ihn an.»

Hastig steht Edouard auf, dreht das Bild um. Dann steigt er über ihren einäugigen Körper in den Flur, packt ihn an den Füssen und schleift ihn aus seinem Zimmer. Das Nacht­hemd rutscht Mutters Hintern hoch, die Windel hängt schief an ihrem Leib. Unvermittelt lässt er ihre Beine auf den Boden plumpsen. Er geht ins Bad, lehnt sich an die versengten Pfannkuchen. Alles brennt. Galle im Gaumen, Tränen auf den Augäpfeln. Ein Schweisstropfen rinnt ihm den Nacken runter, bleibt auf der Wölbung seines Rückens liegen. Er wischt ihn mit der flachen Hand weg und stochert mit dem rechten Fuss in das eine Hosenbein, hüpft um seine eigene Achse und zwängt den linken Fuss ins andere Loch.

Als er wieder in den Flur tritt, liegt die Mutter zusammengerollt wie ein kleines Kind auf dem Laminat. Er beugt sich zu ihr hinunter: «Halt dich an mir fest. Ich bring dich ins Bett zurück. Alles wird gut.» Er hebt ihren linken, lebendigen Arm über seinen Kopf und Nacken, legt ihr den seinen um die Taille. Sie knickt ein, als er sie hochzieht. Schnell schiebt er den Arm unter ihre Beine und drückt die Knie durch, die Mutter fest an sich gepresst, damit sie ihm leichter wird. Sie riecht faulig, denkt er.

Er steigt mit ihr die Treppen hoch. Braune Schlieren zeichnen ihren Weg über die Stufen. Sie muss wie ein Kind hinuntergerutscht sein. Er sagt nichts. Schaut nur nach oben.

Das Dachzimmer liegt im Dämmerlicht der Strassenlaterne. Edouard legt die Mutter ins Bett zurück. Sie wimmert, versucht, Worte zu formen. Er setzt sich auf seinen Stuhl beim Fenster, den Rücken der Strasse zugewandt. Das Gespinst seines Haarkranzes fängt das Licht der Laternen auf und schimmert ins Dunkel.

«Kran…kch», tönt es vom Bett, «krrrk.» Edouard erhebt sich und geht zu der Mutter hinüber, kniet sich neben ihrem Kopf auf den Bettvorleger. «Du… pfui», brabbelt aus ihr heraus. Das eine Auge glotzt ihn an.

Dann endlich senkt sich das Lid über Mutters Starren. Ihr Atem verlangsamt sich, kommt aus immer tieferer Brust. Selbst im Halbdunkel erkennt Edouard jede Furche dieses Gesichts. Das Muttermal. Mutter. Mal. Warst du. Denkt er. Er legt seine Hand auf ihren Mund. Weiche Haut, lose auf Kieferknochen. Er denkt an ein rohes Huhn. Atmet mit ihr mit. Seine zweite Hand hebt sich, ganz von selbst, ruht nun auf ihrer Nase. Daumen, Zeige- und Mittelfinger finden die Nasenflügel. Sanft. Dann drücken sie zu. Actio gleich Reactio, denkt er.

Murren und Greinen sind im Hals der Frau unter ihm gefangen. Sie will sich hin- und herwerfen. Edouard legt sich auf sie. Ohne Druck oder Hast. Viel Kraft ist da nicht mehr und bald ist sie gänzlich erloschen. Mutter erschlafft. Ein letztes Mal legt er die Satinrolle unter ihren Leib und wäscht und wickelt sie. Streicht ihr das Haar aus dem Gesicht. Leert den Abfalleimer im Dachzimmer, schrubbt die Treppe und schliesst die Türe zum Raum im ersten Stock ab. Den Schlüssel steckt er in den Hosensack. In der Küche schenkt er sich kalten Pfefferminztee ein. Holt die Schachtel «Kent» aus der Schublade. Raucht. Dann zieht er Vaters Uhr vom Handgelenk und legt sie in die Gitterschale auf die Asche.

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