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Letzte Bergfahrt

 

Was für ein richtiger, verfluchter, finaler Titel für die letzte Kolumne in diesem Blatt. Begeben wir uns also noch einmal auf Bergfahrt über die Grate und das Thema hinaus. Es fragt sich noch immer, was die Literatur mit den Bergen soll. Was einen der Winter im Sommer interessieren muss. Was braucht es Wissenschaft, wenn man auch eine Meinung haben kann? Was geht mich Klimawandel an, wenn meine Insel nur eine politische ist? Klar ist, es hat sich noch immer gelohnt, über die eigene Sache hinauszusteigen. Wanderer wissen das. Aus der Distanz betrachtet wird die Welt nicht nur kleiner, sie wird klarer. Von weit her blickten auch die Wissenschafter, die «Letzte Bergfahrt» vorgelegt haben, ein Buch über die Stilllegung von Skiliftanlagen in den Schweizer Alpen. Was aber brachte Politikwissenschafter aus dem Ruhrgebiet dazu, sich statt ihren Kohlezechen den verfallenden Skilifthäuschen zu widmen? Männer und Frauen wohlgemerkt, die sonst zu internationaler Sicherheitspolitik forschen, sich mit Terrorismus befassen und militärischen Interventionen. Es muss so etwas wie Liebe gewesen sein. Davon zeugen Fotos. Von Anfang an war klar, dass diese wissenschaftliche Pionierstudie auch einem nichtakademischen Publikum erschlossen werden sollte. Weshalb sich die Analysen in einem bildreichen Buch präsentieren mit ästhetischem Anspruch. Die Fotografien allerdings stammen nicht von coffee-table-book-erprobten Bergfoto­grafen, sondern von den Autorinnen und Autoren selbst. Betrachtet man ihre Aufnahmen, lässt einen der Verdacht der Befangenheit nicht los. Irgendwie haben die sich in ihr Forschungsobjekt verliebt. Auch ich habe sie immer gemocht, die geometrischen Formen der Seilbahnen, die betonblockigen Findlinge in hügeliger Landschaft, sommers etwas verloren in geblümten Berg­wiesen stehend. Orange Schwungräder unter blauem Himmel, dunkelgrüne Masten. Schwarze Stahlseile definieren Postkartenansichten und verschwinden in Stationen, die aussehen wie Raumschiffe aus der Vergangenheit der Zukunft. All dies erschöpft sich nicht mehr in Schwärmerei, es gibt jetzt die Fakten. Aufstieg und Niedergang der Schweizer Skilifte wurden erforscht und untersucht, exemplarisch an den Anlagen Erner Galen, Hungerberg, Winterhorn und Confin/San Bernardino. Bei aller Sachlichkeit eine spannende Lektüre über Fortschrittseuphorie, Pioniergeist, Dorfkönige und internationale Investoren. Die stets unrentablen Bergbahnen waren von Beginn an komplexe Konstruktionen aus Querfinanzierungen, Hoteliers und Verkehrsvereinen. Als der Killer Klimawandel auftrat, fand er viele strukturelle Helfer. Zum unleugbaren Schneeschwund kam die Billigfliegerei, und bald hiess die Konkurrenz Thailand, Barcelona und Mykonos. Bequemere Familienferien. Und die­jenigen, die dem Skifahren treu blieben, die tagesausflügeln heute lieber in die Komfortzone einer Snow Arena, als ganze Sportwochen mit Schlepplift und Skikurs zu absolvieren. Wenn selbst die Einheimischen immer weniger anbügeln, wie soll man da ausländische Gäste motivieren, ihr Ferienbudget der Härte des Schweizer Frankens auszusetzen? Die Rettung des Winters ist der Sommer. Also Hängebrücken, Seminare, Seilparks, Landschaftspärke und Musikfestivals. An Ideen mangelt es nicht, auf die Ernüchterung folgt wieder leise Aufbruchsstimmung. Doch nichts wird wieder so, wie es mal war. Das hat wie immer auch sein Gutes. Bereits im Vorwort von Daniel Anker blitzt Zukunft auf, eine schneestiebende, glitzernde. Denn auf die wehmütig erhellende «Letzte Bergfahrt» folgt hoffentlich bald sein Skitourenführer über ehemalige Pisten, die wieder den Berggängern gehören. Vielleicht ist das Aufleben des Wintersports, dass er wieder zum Sport wird.


Buch: Matthias Heise, Christoph Schuck (Hrsg.): Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete und ihre touristische Neuausrichtung. Zürich: AS-Verlag, 2020.

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