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Brief aus dem Tessin (ventidue)

 

Wozu schreiben, wozu lesen, wenn nicht in der Hoffnung auf eine Begegnung? Für seit je eher introvertierte Menschen wie mich stellt die Literatur vor allem eine Gelegenheit dar, Brücken zu schlagen: zwischen mir und anderen natürlich, aber fast noch mehr zwischen mir und den geheimsten Teilen meines Ichs. In den Wochen der Isolation empfand ich die Einsamkeit manchmal als wertvolle Chance, manchmal als mühselig. Während einer Videolektion mit Gymnasiasten stiessen wir zufällig auf eine Mut machende Gedichtzeile aus Vittorio Serenis «Diario d’Algeria». Es war wie ein Geschenk, eine Offenbarung: «Così, distanti, ci veniamo incontro», «Und so, einander fern, kommen wir uns näher». Ein perfekter ende-casillabo aus dem Jahr 1947, der uns etwas über unser heutiges Leben verrät.
Vom 22. bis zum 24. Mai fanden die 42. Solothurner Literaturtage statt, zum ersten Mal online (www.literatur­online.ch). Unter den Gästen auch mehrere Vertreterinnen und Vertreter der italienischen Sprache: Luciana Cisbani, Doris Femminis, Matteo Ferretti, Pierre Lepori, Silvia Ricci Lempen, Tommaso Soldini und Sandro Veronesi. Ich erinnere mich noch an meine erste Einladung an die Solothurner Literaturtage: Für mich als jungen Autor damals eine wichtige Gelegenheit, meine Arbeit zu reflektieren. Dieselbe spezielle Atmosphäre nahm ich, trotz der Distanz, auch bei den Online-Veranstaltungen wahr – jene Aufmerksamkeit für die künstlerischen und auch handwerklichen Aspekte des Schreibens, die eine der grossen Stärken des Festivals ist.
Zwei Neuerscheinungen: In «In occasione dell’epidemia» (Casagrande) beobachtet Francesco M. Cataluccio von der häuslichen Isolation in Mailand aus sein Land im Bann der Pandemie: Autobiografisches, Bezüge auf das Tagesgesche-hen, soziale Beobachtungen und philosophische Reflexionen fügen sich zu einem manchmal harten, manchmal ironi-schen Tagebuch zusammen. Und in Giorgio Genetellis neuem Roman «Merluz Vogn» (Capelli) entführt uns ein elfjähriger Erzähler im Sommer in ein Tessiner Dorf der Sechzigerjahre. Ein Roman über das Ende des Zaubers der Kindheit in einer kunstvollen Mischung aus Dialekt und Italienisch. Ein zeitlicher und sprachlicher Brückenschlag.

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