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Yael Pieren: «Storchenbiss»

Yael Pieren:
«Storchenbiss»

 

Ein Storchenbiss ist ein roter Hautfleck auf dem Hinterkopf eines neugeborenen Säuglings. Dieses rote Mal erscheint zwar nur auf dem Nacken des Bruders der Erzählerin, der später in einer psychiatrischen Klinik verschwindet; als Prinzip stigmatisiert der Storchenbiss aber alle Personen im gleichnamigen Debütroman: Yael Pieren erzählt ausnahmslos von gezeichneten Menschen. Ihr Text erweist sich als loses Gefüge, in dem die Menschen wie Figuren in einem Mobile in der Leere schweben, voneinander isoliert und ohne Gewicht.

Da ist eine junge Frau, die sich nach dem Ende einer Beziehung in einer leeren Wohnung einrichtet; oder ein Mann, der bereits mit sechzehn verschiedenen Füllfedern versucht hat, seine Geschichte aufzuschreiben; oder eine Frau, die nach einem Streit mit einem Mann die Treppe hinunterstürzt und dadurch einen Finger verliert. Auf ihnen allen lasten Einsamkeit und bleierne Stille; für sie alle bedeutet Leben radikaler Verzicht: «Mein wertvollster Besitz wäre eine Schneekugel. Das ist sie wirklich.»

Yael Pieren zeichnet ein totenstilles, von einem lebendigen Alltag gänzlich abgerücktes Universum. Die Personen in dieser Schneekugel bleiben namenlos. Erst allmählich zeigt sich, dass hier ein Paar und dessen Tochter dem stillen Gestöber ausgesetzt sind. Und mit der zunehmenden Verflechtung der Kapitel lassen sich auch die Gründe für ihre Isolation erahnen; es sind Erfahrungen von Verlassenwerden und von häuslicher Gewalt, im Extremfall gar von Misshandlungen, denen etwa der Mann als Verdingbub ausgesetzt war, von Schlägen und von einer in den Hintern gerammten Mistgabel. Alle Figuren kämpfen mit ihrem eigenen «Knäuel an unliebsamen Erinnerungen» und mit dem damit verbundenen «Grauen». Dieses bricht dann und wann in unmittelbarer, plötzlicher Gewalt hervor.

Die junge Basler Autorin wagt viel. In ihrem Debüt sucht die Philosophiestudentin nach einer Sprache für die Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen. Dazu wählt sie einen poetisch aufgeladenen Ton, dem ein hintergründiges Raunen innewohnt. Ein unheilvolles Grollen, der literarische Vorbote eines heftigen Sturms. Allerdings: die Ereignisse und familiären Verwerfungen zeichnen sich in den bedeutungsschweren Sätzen der Newcomerin nur schemenhaft ab. Yael Pieren versucht, mit Worten gegen die Verlassenheit anzukämpfen und Traumata mit einem Sprachrausch zu betäuben. Dabei deckt sie die namenlosen Charaktere nicht selten einfach zu. Ihr ambitionierter Roman fordert von den Lesenden also Geduld und Kombinatorik, beides wird belohnt mit Formulierungen, die die existentielle Beunruhigung der Romanfiguren auf den Punkt bringen: «Ich bin davon ausgegangen, dass man mit gewissen Umständen leben kann, ohne sie zu akzeptieren.» Unsere Ansichten über das Leben sind also nichts als Hilfskonstruktionen. Es könnte auch alles ganz anders (gewesen) sein. Dass einem beim Lesen diese Einsicht immer mehr unter die Haut kriecht, ist die literarische Leistung von Storchenbiss. Eine Lektüre für alle, die gern über die eigene Schneekugel hinausdenken.

Yael Pieren: Storchenbiss. Zürich: Rotpunkt, 2012.

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