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Christoph Höhtker:  «Schlachthof und Ordnung»

Christoph Höhtker:
«Schlachthof und Ordnung»

Pharmageddon

 

Es ist Dezember 2022 irgendwo an der Grenze zwischen Dystopie und wahrscheinlicher gesellschaftlicher Entwicklung. Die nagende Sinnlosigkeit und -leere als Grundlebensgefühl des westlichen Menschen kulminiert fröhlich vor sich hin, so dass er, um nicht vollständig an seiner «Schrottexistenz» zu verzweifeln, zur Ausblendung selbiger immer häufiger unter einen Schleier des Nichtwissens flieht. Schleierverleiher ist das Pharmazeutikum Marom, ein Xanax-Verschnitt, der maliziös lächelnd alle Menschen unter seine berauschenden Fittiche nimmt, wobei sich schon bald die Frage aufdrängt, ob der Mensch Marom erfunden hat oder nicht vielmehr Marom den Menschen. Diese philosophisch abgründige Variation auf die Henne-Ei-Problematik kündigt sich bereits auf den ersten Seiten von Christoph Höhtkers neuem Roman an, auf denen alle 25 auftretenden Figuren den Realitätsebenen –2, 0 und –1 zugeordnet und kurz skizziert werden. Um ob der Vielfalt der Handlungsverästelungen und -ebenen nicht den Überblick zu verlieren, blättert man zurück, zunächst, bis man sich dem Marom- bzw. Romanrausch wie einem luziden Fiebertraum vollständig ergibt, nonstop high von der spürbaren Freude des Autors am Absurden, das so beängstigend nah an der Wirklichkeit gebaut ist.

«Schlachthof und Ordnung» ist der Titel einer investigativen Reportage des Pariser Journalisten und Marom-Süchtigen Marc Troisier. Sie bildet den Rahmen der Geschichte. Der geordneten Tiertötung im Schlachthof der Fleischfabrik Milaut steht die Auflösung des Marc Troisier qua Marom gegenüber. Denn als Sinn des Lebens im Tablettengewand beschert es zwar herrlichste Glücks- und Realitätsentfernungszustände – jedoch zum Preis des physischen und psychischen Zerfalls bei Absetzen. Marc Troisier wagt es – Déformation professionelle – trotzdem und hält seinen Entzug in Buchform fest. Kontrastierend zum sukzessiven Zerfall Troisiers behaupten Fussnoten auf fast jeder Seite dieses Romans weiterhin stur mindestens eine greifbare Realität. Alles steuert auf ein «Pharmageddon» zu, denn jede Zelle in Marc Troisier schreit nach der Glückspille, so dass es zu einem irren Wettlauf zwischen zynisch gezeichneten Charakteren kommt, deren einziger Antrieb – ob CEO, Journalist oder Terrorist – Marom ist: seine Herstellung, Beschaffung oder Zerstörung. Zuletzt deutet ein blutroter Himmel das Ende der Menschheit an.

«Schlachthof und Ordnung» lässt sich als satirisch-finsteres Plädoyer dafür lesen, dass auf lange Sicht niemand, vor die Wahl zwischen blauer und roter Pille gestellt, die blaue wählen sollte. Christoph Höhtkers Tempo, Eloquenz und Textformjonglage – vom Werbebrief über Gedicht und Tagebucheintrag bis zum Polizeibericht wird auf dieser Schlachtplatte alles serviert – machen den Roman besonders für den dem gekonnten Sprachspiel zugeneigten Leser zu einem aussergewöhnlichen literarischen Vergnügen.


Christoph Höhtker: Schlachthof und Ordnung. Frankfurt am Main: weissbooks, 2020.

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