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Eva-Maria Leuenberger: «Dekarnation»

Eva-Maria Leuenberger: «Dekarnation»

Auf der Suche nach einer Empfindung.

Während der Lektüre von Eva-Maria Leuenbergers Gedichtzyklus suchte ich nach einem Gefühl, nach einer Empfindung. Das Gefühl kam auf, führte allerdings nicht zu den Gedichten zurück. Dafür verstand ich plötzlich den Rittmeister ­Kaunitz in Joseph Roths «Radetzkymarsch». Nachdem nämlich ein Rabbi in einer unverständlichen Sprache den Segen über Kaiser Franz Joseph gelallt hatte, raunte dieser Kaunitz zum Nebenmann: «Ich habe keinen Ton verstanden.» Der Kaiser, der diesen Satz gehört hatte, beschied dem Rittmeister kühl: «Er hat auch nur zu mir gesprochen.»

Ganz offenbar hat die Dichterin nicht zu mir gesprochen. Keinen Ton. Das heisst, ich wurde vom Sound der Gedichte nicht getroffen, auch wenn Themen wie Körper, Tod und Leben, die sich durch die vier Zyklen Tal, Moor, Schlucht und wieder Tal hindurchschlängeln, keineswegs lyrische Unbekannte sind. Doch sie liessen mich gleichsam ortlos zurück, um ein Wort von Paul Celan anklingen zu lassen. Und auch wenn die Zeilen der Newcomerin – «bildstarkes Debüt» nennt es der Verlag – bisweilen an den allmächtigen Celan und alle seine Epigonen anklingen, spürte ich als Leser «kaum einen Hauch». Woran mag das liegen? Vielleicht am Umstand, dass die Lyrikerin aus der Spoken-Word-Szene kommt und die Worte – und folglich auch die Welt – beim Lesen nicht zu klingen anfangen?

«Dekarnation» heisst der Band, «Entfleischung» – ein Begriff aus dem Zoroastrismus (Zarathustra lässt grüssen). Die Leichname seiner Anhänger werden traditionell in Türmen bestattet und von Geiern gefressen. Ich habe die Grabesstätten, die Türme des Schweigens, in Indien mit eigenen Augen gesehen. Ich habe auch diese Gedichte mit eigenen Augen gelesen. Manchmal ging ein Bild hinein und hörte, kaum im Herzen, wieder auf zu sein. «… die stimmen flüstern, ohne ton / im augenwinkel zuckt ein körper / und trotzdem, / sind wir allein.» Selbst in der Komposition oder Konstruktion der vier Zyklen mit ihren Iterationen entsteht kein Gewebe, keine textura, sprich: Text. Eben ohne Ton, der mir die Welt aufgetan hätte, die die Dichterin bestimmt mit Kopf und Herz gezeichnet hat. So blieb ich mit den Gedichten allein. Ohne körperliches Zucken. Sicherlich gehört Eva-Maria Leuenberger nicht zu den tonlos Stummen. Aber ich als ihr Leser offenbar zu den Tauben.


Eva-Maria Leuenberger: Dekarnation. Graz: Droschl, 2019.

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