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Eine noch viel schönere Geschichte

Für ihr drittes Buch «Willkommen im Tal der Tränen» wird Noëmi Lerch mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet. Lesen Sie hier eine noch unveröffentlichte Geschichte der Autorin.

Eine noch viel schönere Geschichte
Noëmi Lerch, fotografiert von Younès Klouche/BAK.

Eine Bank. Schon lange ist hier niemand mehr gesessen, schon lange wohnen Tiere darin. Würmer und Spinnen. Eine Bank mit einem Strauch darüber. Wenn ich hier sitze, ist der Strauch ein Vorhang, ein Traumfänger. Die Blätter, die roten vom Herbst, sind die Federn von einem Vogel, der singt, wenn der Wind kommt. Wie du dasitzt, sagt der Grossvater. Dann geht er weiter, Papier unter dem Arm, ein paar Bleistifte, Farben.

Der Bank zur Seite steht eine Reckstange. Der Grossvater steht davor und schaut, mit Sicherheitsabstand. Ich dachte, er würde sie berühren, vielleicht sogar ein wenig hin und her schaukeln daran. Hier hat also meine Karriere angefangen, sagt er. Um die Reckstange herum hohes Gras, wir beide darin, bis zu den Knien versunken. Hier wurde lange nichts mehr gemacht, sagt er dann und schaut hoch, wo sich die Kronen der Bäume berühren. Die Kalifornische Fichte hat der Leo gepflanzt, der erste Freund meiner Schwester. Der hatte einiges zu bieten, dieser Leo. An den Abenden manchmal, da sassen die Schwester und wir Buben unter der Kalifornischen Fichte und der Leo hat vorgelesen, aus Tausendundeiner Nacht.

Ich mache ein paar Schritte auf die Reckstange zu, streiche mit der Hand über das Moos, das aussieht wie eine Landkarte auf Eisen. Eine Moorlandschaft, Sümpfe. Dazwischen Kupfergebiete. Rost. Immer tiefer kommen wir in den Garten hinein, immer höher werden die Bäume, dicker die Stämme. Ich halte mich an meinen Grossvater, bleibe ihm auf den Fersen, will kein Wort verpassen, es ist so still.

«Es war Kriegsbeginn, als wir hierhergekommen sind, sagt er, als benenne er eine Jahreszeit. Ich warte vergeblich auf eine Erklärung.»

Hier hat einmal ein Weg durchgeführt, ein Kiesweg. Siehst du? Jeden Sonntag mussten wir den ganzen Kiesweg vom Haus bis hinunter zum Garten rechen. Jeden Sonntag. Ich hab mich oft gedrückt. Äpfel herumgeworfen und so. Dafür hat mir der Paul, mein grosser Bruder, einen Namen gegeben. Flugplatzmauser, hat er gesagt. Aus dir wird doch nur ein Flugplatzmauser. Ich stelle mir meinen Grossvater vor, wie er auf dem Flugplatz nach Mäusen sucht. Wie er sich duckt, jedes Mal wenn ein Flugzeug abfliegt oder landet. Und wie er all die gefangenen Mäuse in einer Hand an den Schwänzen zusammenhält, wie ein umgekehrter Strauss. Aber was tun mit einem Strauss toter Mäuse. Obwohl, zu dieser Zeit. Es war Kriegsbeginn, als wir hierhergekommen sind, sagt er, als benenne er eine Jahreszeit. Ich warte vergeblich auf eine Erklärung.

Am Ende des Weges zwei Häuser. Das eine mit Trauben daran. Das andere mit grossen Fenstern und Schindeln wie Fischschuppen auf der Fassade. Das Haus mit den Trauben, da habe ich gewohnt. Im Haus nebenan, der Doktor, seine Frau. Ein Sohn, drei Töchter. Wir gehen dem Bach entlang, der an den Garten grenzt. Der war früher klarer. Auch Forellen waren darin und wir Buben haben darin schwimmen gelernt, weiter unten, wo er tiefer ist. Zum Erzählen muss man stehen bleiben. Zum Zuhören muss man stehen bleiben. Das Moos unter unseren Füssen ist ein Teppich. Jetzt, wo das Haus leer und der Park verwildert ist, können wir hier so lange stehen, wie wir wollen.

Siehst du den Balkon? Dort oben hat der Doktor an den Sonntagen gestanden und mit der Pistole auf die Forellen im Bach gezielt. Der Doktor war ein kleiner Mann, aber im Militär war er ein hohes Tier. Dafür hatte er eine gute Frau. Wenn er nachts manchmal spät von der Arbeit nach Hause kam, hat er vor der Garage angehalten und gehupt, bis die Frau im Nachthemd heruntergekommen ist und ihm das Garagentor aufgemacht hat. So einer war das. Dafür eine gute Frau. Eine Grosse, Schöne.

«Aber es gibt noch eine viel schönere Geschichte, sagt er, als wir wieder in Richtung des Autos gehen. Hab ich dir erzählt, wie ich mit zehn Jahren den Wagen vom Doktor in die Garage am anderen Ende vom Dorf gefahren habe? Das war nämlich so.»

Ein Dienstmädchen hatte der Doktor auch. Von Wynau war die, schon fast eine Bernerin. Ganz eine Hübsche. Einmal, da hat sie uns geholfen, das Holz in die oberen Zimmer vom Doktorhaus zu tragen. Treppen rauf, Treppen runter. Mein Bruder Paul muss schon seit längerer Zeit ein Auge auf sie geworfen haben. Aber als sie sich an diesem Tag beim Holztragen auf der Treppe kreuzten, sie kam von oben, trug einen Rock und in der Hand ein leeres Harassli und er kam von unten die Treppe herauf, da hat sie ihm einfach einen Kuss gegeben. Später hat der Paul dem Vater das gebeichtet. Ein schlechtes Gewissen hatte der wegen dem Kuss.

In der Hand trägt mein Grossvater noch immer das Papier, ein paar Bleistifte, Farben. Aus dem Flughafenmauser ist ein Maler geworden. Aber es gibt noch eine viel schönere Geschichte, sagt er, als wir wieder in Richtung des Autos gehen. Hab ich dir erzählt, wie ich mit zehn Jahren den Wagen vom Doktor in die Garage am anderen Ende vom Dorf gefahren habe? Das war nämlich so.

Wir haben unsere Kreise gezogen, um die beiden Häuser, durch den Park, der jetzt Wald geworden ist, mit einem Kiesweg darunter. Zwischen den Fenstern, den äusseren und den inneren Fenstern vom Doktorhaus, wachsen Blumen. Und die Trauben sind auch reif, hast du gesehen? Grossvater nickt. Aber jetzt habe ich Durst. Komm. Er geht voraus und er geht gut, in seinen Turnschuhen, in seiner Lederjacke sieht er sportlich aus. Im Restaurant bestellt er eine Flasche suuren und eine Flasche süssen Most. Wir mischen und stossen an, auf dass mein Notizbuch und sein Papier beide weiss geblieben sind.


Zu Lerchs ausgezeichnetem Roman «Willkommen im Tal der Tränen» (verlag die brotsuppe, 2019):

Noëmi Lerch hat mit «Willkommen im Tal der Tränen» ein Werk mit wenigen, aber intensiven Worten geschaffen. Wie ihre beiden ersten Bücher («Die Pürin» 2015, «Grit» 2017) spielt auch ihr drittes in den Bergen. Es erzählt vom Kleinbauern Zoppo und seinen namenlosen Helfern – dem Tuinaren und dem Lombarden. Über die teils nur mit einem Satz beschriebenen 280 Seiten entwickelt die Autorin das Bild dieser drei unterschiedlichen Figuren, einer Männerfreundschaft und des Lebens abseits der Zivilisation. Es wird deutlich, dass die gebürtige Badenerin selbst auf einem Bergbauernhof arbeitet und nichts vom verklärten Bild einer heilen Bergwelt hält. Lerch zeigt mit ihrer klaren Sprache die Schönheit, aber auch das rauhe Klima und die Einsamkeit des Lebens in den Bergen auf. Ergänzt wird die Geschichte durch Schwarz-Weiss-Illustrationen von Walter Wolff. Sie verstärken das Bild eines kargen, harten Alltags fernab der Zivilisation, der aber, ganz im Bann der Elemente, auch Momente der Magie kennt. (an)

Ein Zitat aus dem Werk:

«Der Lombard kommt in die Küche, geht zum Herd, wo der goldene Topf steht. Hebt den Deckel und fragt, hat es hier noch eine Träne Kaffee. Der Tuinar ist verlegen. Dabei würde er manchmal wirklich gern etwas sagen. Zum Beispiel zum Lombarden, wenn sie die Kühe melken. Oder zu Zoppo, wenn sie käsen. Die Verlegenheit setzt sich wie eine Fliege auf jeden Gedanken. Macht daraus einen Haufen Mist. Auch der Lombard schweigt. Singt und flucht nicht mehr. Beim Frühstück drückt der Tuinar die warme Kaffeetasse ans Gesicht. Der Lombard sagt, hörst du noch immer dein Meer.»

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