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An die Luft

Für ihren Gedichtband «Trás-os-Montes» wird José-Flore Tappy mit einem der Schweizer Literaturpreise 2019 ausgezeichnet. In diesem Essay macht sich die Autorin Gedanken über die Bedeutung, die Wörter für sie haben.

An die Luft
José-Flore Tappy, fotografiert von Maurice Haas.

Sich herausarbeiten, durch das Undurchdringliche aufsteigen, nach Luft, nach Erleichterung streben.

In «Kaddisch für ein nicht geborenes Kind»1 erklärt der ungarische Schriftsteller Imre Kertész: «… leben und schreiben, einerlei was, beides zugleich, denn mein Spaten ist der Kugelschreiber, wenn ich nach vorn blicke, sehe ich ausschliesslich nach hinten, wenn ich auf das Papier starre, sehe ich ausschliesslich in die Vergangenheit». In Kertész’ Roman hallt ein tragischer Gesang. Besessen von der Vernichtung kämpft der Autor wie eine Fliege um sein Leben, und jedes Wort, jeder Spatenstich gräbt sein Grab. Dennoch … unter dem Spaten verwandelt sich die schmerzhafte Gewalt des Textes in Melancholie und die Auflehnung in Gebet.

«Sich durch graben aufbauen», sagt eine chinesische Weisheit. Aufbauen heisst abtragen, die Vergangenheit bewegen wie schwere Erde, einen Atemhauch, so schwach er auch sein mag, vor dem Stocken und der Last des Schutts retten und ihm einen Weg bahnen. Ich höre «Faden», «Staub», «morgen», und eine ganze Welt taucht auf. Wie soll man das geheimnisvolle Echo dieser Worte, ihre stumme Amplitude, ihren mächtigen Schritt hörbar machen? Wie die Gerüchte übertragen, die mich rufen, sie aus dem Lärm lösen, der sie zudeckt? Der Kugelschreiber ist mein Spaten … ich reisse aus, ich jäte, ich lüfte; ich hacke und leere einen vollgestopften Raum.

Ich komme aus einer kosmopolitischen Familie mit ganz unterschiedlichen Wurzeln und Kulturen, ich bin in einem Milieu aufgewachsen, in dem der Konsens nicht selbstverständlich war. Beim Essen reden alle gleichzeitig, ungeduldig und leidenschaftlich, in grösster Unordnung. Zwischen uns weder Krieg noch Hass, sondern die ungestillte Suche nach einer möglichen Verständigung … akrobatische Balance! Wie begegnet man seinem Nächsten? Vermischung und Paradoxa, endlose Diskussionen, Unstimmigkeit und Konfusion: Ein starkes Gefühl von Andersartigkeit und die Vielfalt der Ansichten bringen unsere Gewissheiten ins Wanken, auch die Vorstellung des Absoluten. Der einzige gemeinsame Horizont: ein aktives, gewolltes Zusammenleben. Eine jüdische Legende erzählt, man müsse in der Freundschaft immer einen Platz für den Streit lassen und im Streit einen Platz für die Versöhnung.

Die Sprache, in der ich schreibe, ist so wie meine Familie: paradox, komplex, unerwartet, sie entzieht sich dem allzu leichten Verständnis. Wie am Familientisch drängeln sich auch am Arbeitstisch die Bilder, ziehen sich an und stossen sich ab, entwischen mir … Schreiben ist weder eine Berufung noch ein Glaubensbekenntnis, ja nicht einmal eine zweite Natur. Sondern das Ergebnis eines harten und brüderlichen Disputs, dessen Ausgang keineswegs sicher ist. Ich brauche die Wörter, aber ihre Unmittelbarkeit klingt hohl. Trotzdem brauche ich sie, um zu verstehen, wohin ich gehe. Die Sprache, Knollenblätterpilz oder Tollkirsche, giftig oder verführerisch, verlangt Aufmerksamkeit in jedem Augenblick, wie sonst soll man den unsichtbaren Fallen entgehen, die sie uns stellt? Und wenn sich die Wörter widersetzen, vertreiben sie mein Misstrauen? Wenn sie mich überfluten, blendet mich meine Begeisterung? Ich zögere, ich schwanke … Widersprüchlich, um besser zu wählen, schwebend, um mich besser zu orientieren, nähere ich mich einer unwahrscheinlichen Begegnung – mit jemand anderem, mit mir selbst; Wehmut der Sehnsucht, die mich treibt zu zweifeln, zu präzisieren, hartnäckig auf das zu hören, was mich ruft und zugleich vor mir flieht: meine eigene Fremdheit.

«Schreiben ist weder eine Berufung noch ein Glaubensbekenntnis.»

«Nein!»: Das erste Wort des Romans skandiert Imre Kertész vom Anfang bis zum Ende des Buches mit unbeugsamer Hartnäckigkeit. Der durch die Nacht geschleuderte Schrei stösst einen Text heraus, den er dem Schweigen entreisst. Der Unmöglichkeit zu lieben entspringt dieser fiebernde und eigensinnige Monolog, eine lange empörte Spaltung, zur glühenden Beschwörung geworden – dieses Kaddisch, das jüdische Totengebet, das man im Stehen rezitiert. Aus diesem herzzerreissenden «Nein!» entfaltet sich wie vor einer verschlossenen Tür ein ganzes Buch. Kertész erinnert uns an den vielleicht demütigsten Sinn des Schreibens: eine Ohnmacht zügeln, eine schmerzhafte Unzulänglichkeit zähmen, das Irreparable zu einem machtvollen Antrieb machen.

So viel unbekümmerter, weil das Schicksal – und die Geschichte – mich bis heute vor dem Schlimmsten bewahrt haben, aber von Natur und durch Familienübertragung besorgt; ständig auf dem Quivive und in der Angst vor dem Morgen, weil nichts, das wissen wir, je endgültig gewonnen ist und der heiss ersehnte Ausgang immer wieder neu erschaffen werden muss, streiche und ergänze ich, widerspreche mir und weise mich zurück, lasse nach dem Instinkt die «Gegeninstinkte» sprechen, wie man «Gegenfeuer» entzündet. Der Kugelschreiber ist mein Spaten … ich grabe, ich trage ab, ich befreie und komme durch die unaufhörliche Korrektur der Ungenauigkeit, durch die Vielzahl fruchtloser Versuche voran. Ich stütze mich auf die Wörter wie auf meine Füsse, spanne den Faden eines Monologs von Nuance zu Annäherung, ich versuche, gefesselt, mich allmählich zu erleichtern um – an der Luft – einen Dialog zu führen, indem ich auf der anderen Seite meiner inneren Grenzen die Beruhigung wiederfinde, dich mich dem anderen näherbringt.

Eine frühere Version dieses Textes ist in «La Revue de Belles-Lettres», 2014/2 erschienen.

 


Zu Tappys ausgezeichnetem Gedichtband «Trás-os-Montes» (La Dogana, 2018):

Tràs-os-Montes, «hinter den Bergen». So heisst und liegt eine Region im Nordosten Portugals, die man in der Tourismuswerbung «ursprünglich» nennen würde. Hier, vielleicht auch ein bisschen hinter dem Mond, bäckt eine Frau Brot für die Nachbarn, trennt in Gummistiefeln die reifen von den faulen Kirschen, räumt auf, um Haus und Hof für das nahende Gewitter zu rüsten. Einfache, seit Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten praktizierte Tätigkeiten, die einsames Leben ausfüllen, ihm Sinn und Struktur verleihen. Ähnlich schlicht und doch streng geordnet kommen José-Flore Tappys Gedichte daher, in denen sie diese Welt beschreibt und würdigt. Ihr lyrisches Ich kämpft dabei mit abstrakteren Sorgen als die alte Bäuerin – und doch geht es auch ihm um den Schutz vor drohenden «Gewittern» und um Zuflucht vor dem Dunkel der Nacht.
José-Flore Tappy wurde 1954 in Lausanne geboren, wo sie auch heute lebt. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Übersetzerin arbeitet Tappy als Dokumentalistin am Centre des littératures en Suisse romande der Universität Lausanne. Für ihre Poesie wurde sie u.a. mit dem Grand Prix Ramuz de la Poésie und dem Schillerpreis ausgezeichnet. (Stephan Bader)

Ein Zitat aus dem Werk:

«La solitude, elle sait l’entretenir,
plus précieuse qu’un cuir
souple et rare. A mon tour
j’en ferai mon étoffe, ma toile
et de l’absence si souvent redoutée
un endroit où aller.»

Fotos: Maurice Haas.

  1. Budapest, 1990, Aus dem Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm, Rowohlt, Reinbek, 1992.

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