Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Halb so viel, wie Atlee Rouse von Pferden weiss

Kurzgeschichte von Bret Anthony Johnston. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Mit Illustrationen von Arianna Vairo.

Halb so viel, wie Atlee Rouse von Pferden weiss

 

 

Das erste Pferd, das seine Tochter hatte, kam von einem Wanderrummel; da waren Kinder auf ihm geritten, schrecklich, immer im Kreis, im Uhrzeigersinn. Ein Schecke mit Senkrücken und Spalthufen, aber Tammy hatte sich auf der Stelle in ihn verliebt, und Atlee hatte dem Schausteller einen Schein in die Hand gedrückt. Das war eine halbe Ewigkeit her, damals, in der Nähe von Robstown, Texas. Atlee war Pferdewirt mit eigener Ranch im westlichen Umland; Laurel, seine Frau, gab bei ihm Reitstunden. Er hatte den Anhänger nicht mitgebracht – schliesslich hatte er nicht vorgehabt, an diesem Tag ein Pony zu kaufen –, und so fuhr er auf dem Heimweg schön langsam, hielt die Zügel durchs Fenster fest, das Pferd trottete neben dem Truck her, und Tammy sass auf seinem Rücken und sang Lieder über Cowgirls, die sie sich selber ausdachte. Sie nannte ihn Buttons. Keine Ahnung, wie lange er beim Rummel immerzu im Kreis gelaufen war. Jedenfalls ist Buttons bis ans Ende seiner Tage kein einziges Mal linksrum geschwenkt.

Ein Jahr später, ein paar Tage nachdem der Hurrikan Celia zugeschlagen hatte und alle Leute im Schutt und Schlamm nach ihren durchgeweichten Fotoalben und verlorenen Schmuckstücken gesucht hatten, rief eine alte Frau aus Corpus wegen einer Fuchsstute an. Die gehöre nicht ihr. Sie habe sie gefunden; hinten in ihrem eingezäunten Garten habe sie gestanden, die Stute, nass bis auf die Knochen und total verängstigt. «Ich glaub, das war der Sturm, der sie hierhergetrieben hat», sagte die Frau.

Er fuhr hin und warf der Stute einen Strick nicht um den Hals, sondern um den Huf und lockte sie dann mit leisem Zureden und einer Zuckerrübe in den Anhänger. Dann setzte er eine Anzeige in die Zeitung, hängte Zettel in den Futtermittelhandlungen aus und rief sämtliche Rancher an, die er kannte. Er nannte sie Celia, und es stellte sich heraus, dass sie ein richtig tolles Pferd war, klug und trittsicher. Es hatte sich nie irgendwer gemeldet, der das alte Mädchen wiederhaben wollte. Was Atlee sich echt nicht erklären konnte.

Das Schönste, was er je gesehen hatte, waren die Wildpferde in Arizona gewesen. Er war zu einem Ehepaar nach Phoenix gefahren, um Celia dort abzuliefern; die Leute brauchten ein Beistellpferd für einen Grauschimmel, der koppte und webte. Dass sie Atlee fehlen würde, war wohl nicht zu übersehen, denn nach dem Abendessen sagte einer der Rancharbeiter, er habe eine Idee, wie er ihn wieder aufmuntern könne, und dann fuhren sie zum Salt River raus. Niemand wusste, wie lange die Herden überleben konnten. Für den Staat waren sie streunendes Vieh, absichtlich zusammengetrieben, ohne jede Ankündigung, ohne ordentliches Verfahren. Atlee aber sah an diesem ersten Abend hundert Pferde. Mit dem Feldstecher des Rancharbeiters entdeckte er die Hochebene und erspähte dort im orangenen Staub die Tiere. Sie scharrten mit den Hufen, bockten und warfen die Köpfe zurück. Sie klapperten mit den Zähnen und schnappten nacheinander, jagten sich voll Übermut in wildem Spiel. Der Wind liess ihre Mähnen und die Schweife wehen. Sie bissen sich gegenseitig in die Knie, bäumten sich auf und schnupperten in die Luft. Als einem der Hengste ein Geruch in die Nase fuhr, vielleicht von Atlee selbst oder dem Truck oder der Zigarre des Rancharbeiters, rannten mit einem Mal alle los, auf und davon, so schnell, wie er’s noch nie gesehen hatte. Die Herde zerstreute sich und sammelte sich wieder, zerstreute sich und sammelte sich wieder, ein einziger bebender, weit auseinandergezogener Leib, bis sie erneut zusammenkamen und eine herrliche Linie bildeten, einen Meridian, der Vorher und Nachher teilte.

*

Atlee hatte gelesen, dass die Reiter der US-Kavallerie immer abgeworfen wurden, sobald ihre Pferde eine Büffelherde sahen. Das waren Pferde, die man vorher zur Jagd benutzt hatte – sie waren den Indianern in den Ebenen weggenommen worden – und die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, durch die Gegend zu preschen und Tiere einzukreisen, damit die Jäger sie mit ihren Speeren erlegen konnten. Das war ihnen nicht mehr abzugewöhnen, und darum preschten diese Pferde, sobald sie Büffel sahen, in einem solchen Tempo los, dass Reiter, wenn sie keine Ahnung hatten, dabei abgeworfen wurden. Atlee freute sich jedes Mal, wenn er diese Männer mit dem Arsch im Dreck liegen sah, aber dass die Pferde umsonst darauf warten mussten, die Büffel fallen zu sehen, das fand er überhaupt nicht schön.

«Oder war das rechts, wo er sich nicht hindrehen wollte?», fragte Tammy und fächelte sich mit einer alten Zeitschrift Luft zu. Sie sassen auf einer heissen Veranda, schaukelten auf ihren Schaukelstühlen und sehnten sich nach einer frischen Brise. Seine Tochter kam alle paar Wochen raus nach Seaside Acres. Atlee hatte sein gutes Denimhemd an, dazu einen ledernen Bolotie, Stiefel, die er heute Morgen oder gestern Abend oder letzte Woche oder gar nicht geputzt hatte. Er war achtzig Jahre alt, und sein Gedächtnis war zum grössten Teil verschüttgegangen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie auf Buttons gekommen waren. «Ich dachte immer, dass er nicht mehr rechtsrum gehen wollte», sagte sie, «weil er doch die ganzen Jahre so rumgegangen war.»

«Rechts war das Einzige, wo er rumgegangen ist. Die haben ein Gedächtnis wie ein Elefant», sagte er. «Der hat sich halt erinnert, dass er immer nur zu dieser einen Seite abgebogen ist.»

«Ein mieser kleiner Scheissgaul war das», sagte sie. «Da kann ich mich nun wieder dran erinnern. Sein Hobby war, auf die tiefen Äste zuzurennen, dass sie mir ins Gesicht geschnippt sind. Den kleinen Krüppel hat er mehr gemocht als mich.»

«Wenn’s mal zu Ende ist, verkaufst du halt das Karussellpferd einem Sammler, wenn du’s nicht willst.»

«Das sagst du immer, wenn ich dich besuchen komme.»

«Kannst’s ja versteigern; soll’n die Leute sich drum reissen.»

«Und du hast dem Mann kein Geld bezahlt für Buttons», sagte sie. «So haben wir’s jedenfalls Mama erzählt. Du hast zu ihm gesagt, das Pferd sei verletzt, du müssest es konfiszieren. Da gäb’s zwei Möglichkeiten für, hast du gesagt, aber das Endergebnis war bei beiden, dass wir ihn mit zu uns genommen haben.»

Atlee versteifte sich. Das tat er immer, wenn Tammy von ihrer Mutter sprach.

«‹Konfiszieren›», sagte sie, «das war das Wort, das du gesagt hast. Ich glaub, das hatte ich davor noch nie gehört, aber seitdem ist es mir öfter mal begegnet.»

«Ich weiss selber, was ich gesagt hab», log er.

Sie schaukelten noch eine Weile auf der Veranda vor sich hin, dann machte sich Atlee nach und nach an die durchaus sehenswerte Prozedur des Aufstehens. Hätte diese Aufgabe nicht so eine Konzentration verlangt, dann hätte er sich wie ein neugeborenes Fohlen fühlen können, ein schwaches, ängstliches, erschrocken blinzelndes Tier, das sich mühsam und unbeholfen aufzurappeln versucht und dabei zum ersten Mal die eigenen Beine spürt.

Ein Pferd, das sich verlaufen hat, findet von ganz allein den Weg nach Hause.

Seine Frau war auf einer Ranch aufgewachsen, sie war sozusagen mit dem Lasso in der Hand gross geworden, und als er Laurel zum ersten Mal reiten sah – an dem Tag, als sie zu ihm auf den Hof kam, um sich als Reitlehrerin zu bewerben –, wusste er sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Als sie die Zügel lockerliess und ihrem Pferd die Stiefelabsätze in die Seiten grub, da gab’s kein Halten mehr. «Au weia!», dachte er, während er am Koppelgatter lehnte und ihr zusah. Atlee war 26; Laurel war 22.

«Reiten ist anscheinend total dein Ding», sagte er, als er nachher ihre Stute absattelte.

«Ich kann alles unterrichten – Western, Englisch, Dressur.»

«Das glaub ich dir sofort. Du sitzt gut aufm Pferd. Hast ’n Händchen für die Tiere», sagte er. «Wann kannst du anfangen?»

«Echt?»

«Klar. Wir suchen schon länger ’n Reit­lehrer.»

«Nein?», sagte sie und sah ihm in die Augen. «Und du meinst wirklich, ich hab’n Händchen?»

Ein Jahr später hatten sie Tammy. Er campte noch zwei weitere Nächte am Salt River. Er ass von der Klinge seines Taschenmessers Bohnen aus der Dose, trank Wasser aus einer Kanne, die er im Fluss gefüllt hatte. Die Wildpferde waren nicht zurückgekommen. Es grenzte an ein Wunder, dass er sie überhaupt gesehen hatte. Wie eine Fata Morgana war das gewesen.

Atlee angelte, aber es biss keiner an. Vier Stunden sass er auf der Heckklappe und liess die Beine baumeln, mit dem Gewicht, das seine Füsse in den Stiefeln hatten, kam er sich wieder wie ein kleiner Junge vor. Über ihm kreisten Rotschwanzbussarde. Truthahngeier. Eine Wühlnatter huschte über einen Pfad, verschwand im Unterholz. Am zweiten Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, fing Atlee eine Krötenechse und spielte ein bisschen mit ihr, bevor er sie wieder laufen liess. Die Wolken waren mit Sternen umwickelt wie mit Stacheldraht.

Am nächsten Morgen, seinem letzten Morgen dort draussen, standen zu beiden Seiten des Salt River Pferde. Atlee hatte gerade seine Kanne gefüllt, froh, dass er im Windschatten war, und trat hinter eine Gruppe von Persimonenbäumen, um sie zu beobachten. Sie wechselten von einem Flussufer ans andere, immer mehrere zugleich. Mühelos durchschwammen sie den Fluss. Sie genossen das Wasser. Und wenn sie wieder rauskamen, schüttelten sie sich und spielten wiehernd ihre wilden Spiele. Er zählte zwanzig. Dreissig. Vierzig. Atlee hatte ein Gefühl, als ob sein Herz zu gross für seine Brust war.

Ein Pferdeherz wiegt gut neun Pfund.

Sein erstes eigenes Pferd war ein rötlichgraues Quarter Horse gewesen, ein Hengst mit einem Fell, so tiefrot, dass man denken konnte, er schwitze Wein aus. General Lee. Sein Daddy hatte ihn bei einem Farmer eingetauscht. Atlee ritt ihn ungesattelt, so lange, bis er genug Baumwolle gepflückt und Heuballen gebunden hatte, dass er sich bei den Mexikanern draussen in der Gerberei ein Reitpad kaufen konnte. General frass am liebsten Butterblumen und die Rinde von Mesquitbäumen. Atlee dachte sich einen speziellen Pfiff aus, einen langen hohen Ton mit zwei Schleifen in der Mitte, und wenn der Wind General diese Tonfolge ans Ohr wehte, dann kam er im Galopp zurück nach Hause. Das einzige Mal, dass er Atlee abgeworfen hatte, war, als sie einer Wassermokassin begegnet waren, einer dicken Schlange, deren Kopf Atlee mit einem Stock festgepinnt und dann mit einem Stein zerschmettert hatte. Wenn General eine Kolik hatte, blieb Atlee bei ihm im Stall und trank bitteren Kaffee aus Daddys Thermoskanne. Ein paar Mal hatte er behauptet, dass General krank sei, um nachts bei ihm bleiben zu dürfen. Und morgens war er davon aufgewacht, dass ihn der Gaul mit seinen Nasenhärchen am Bauch gekitzelt hatte.

Bücher und Fotos mochte er lieber mit Pferden, Filme lieber ohne. Er las gern was über Rassen und berühmte Geschichten. Darüber, wie sie geholfen hatten, die alten Kriege zu gewinnen und das Gelände zu roden, aus dem später mal das Land werden sollte. Über Plato, der geglaubt hat, die Seele sei ein Streitwagen, der von zwei geflügelten Pferden gezogen werde, einem zahmen und einem wilden. Bei Bildern mochte er es, wenn ein Pferd den Kopf auf dem Rücken eines anderen liegen hatte. Er fand es schön, wenn sie mit aufgestellten Ohren in die Kamera schauten. (Die Ohren eines Pferdes lügen nie.) Bilder von rennenden Pferden und Pferden im Schnee und Pferden, die den Hals senken, um klares Wasser zu trinken, und, ach, verdammt, die Wahrheit war, er liebte jedes Bild, auf dem ein gesundes Pferd zu sehen war.

Bei Filmen ärgerte er sich immer über die Sachen, die die Kamera verpasste. Wie sie die Pferde dazu trainierten, im vollen Lauf auf die Schultern zu fallen, sich aufzubäumen, dann umzukippen und auf dem Rücken zu landen. Wenn auf der Leinwand ein Pferd losrannte, machte Atlee jedes Mal so lange, bis die Szene wechselte, die Augen zu oder tat so, als müsse er sich irgendwas von der Jeans zupfen. Er ertrug es einfach nicht, sie fallen zu sehen. Wenn du einmal erlebt hat, wie sich ein Pferd ein Bein bricht, wenn du so ein Tier einmal brüllen gehört hast, das wirst du nie wieder los.

Das Karussellpferd war ein Geschenk für Lauren gewesen. Nicht von Atlee, sondern von einer ihrer Schülerinnen, der Tochter eines Anwaltsehepaars. Die Kleine konnte reiten, und ihre Eltern sind mit ihr überall auf der Welt zu Wettkämpfen gereist; es gab sogar Hoffnungen auf die Olympiade. Sie haben das Karussellpferd auf einem Antikmarkt in Frankreich gekauft und haben es nach Texas geschickt. Lindenholz, der Körper helle Eierschale, die Details in Königsblau, Gold und Zinnoberrot. Auf dem Karussell war es in einer Aussenreihe gewesen, mitten im Sprung festgehalten, einen Meter achtzig lang. Es hatte einen Schweif aus Rosshaar, einen kunstvoll geschnitzten Sattel, mit Edelsteinen besetzte Zügel, feurige Augen und eine geflochtene Mähne. Die Geschichte war so, dass die Nazis dort durchgekommen sind und alles niederbrannten, und darum haben die Karussellbesitzer, wenn sie Zeit hatten, Löcher ausgehoben und die Pferde darin vergraben. Atlee hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber er wusste, dass die Deutschen so viele echte Pferde getötet hatten, wie sie nur konnten – bei «Die Flucht der weissen Hengste» hatte er die ganze Zeit gelitten –, es war also durchaus möglich. Und Laurel liebte die Statue. Atlee brachte sie an der Wohnzimmerwand an, und sie hat sie ganz ehrfürchtig angeschaut. Da war sie schon krank.

An dem letzten Morgen am Salt River kam das Fohlen zigmal zum Wasser runter. Es ging bis zur Fessel rein und dann rückwärts wieder raus, oder es wirbelte herum und hoppelte wie eine Ziege die Uferböschung wieder hoch. Es verlor seinen Platz in der Reihe, nahm seinen Mut zusammen, wich zurück. Sein Körper glänzte feucht. Als sich das Fohlen endlich doch hineingetraut hat, da war es einfach losgerannt, einfach drauflos, wie Tammy immer auf dem Sprungbrett plötzlich losgeflitzt war. Es spritzte nicht so stark, wie sich Atlee vorgestellt hatte, aber immer noch stark genug, um die älteren Pferde zu ärgern. Das Fohlen hatte seine liebe Not, den Kopf über der Strömung zu halten. Die anderen waren gross genug, die konnten laufen auf dem Grund, der Kleine aber musste kämpfen und schwimmen. Atlee hätte gerne eine Kamera dabeigehabt. Er fragte sich, wie viele Leute es wohl gab, die so etwas schon mal gesehen hatten. Er wünschte sich, Laurel wäre da, um das Erlebnis mit ihm zu teilen, zu fühlen, was er fühlte: dass das ganze Leben nur auf diesen Augenblick zugesteuert war, nur hierhergeführt hatte.

Sicherheit ist ihnen wichtiger als Futter. Wichtiger als Wasser. Wichtiger als alles andere. In der Wüste waren Löwen hinter ihnen her. Urmenschen jagten die Herden von den Felsen runter für das Fleisch. «Wir sind die Raubtiere, und sie sind die Beute», hatte sein Daddy gesagt. Wenn du das verstehst, dann hast du sie verstanden: Ganz tief drinnen sitzt ihnen immer noch die Angst im Blut.

In Seaside Acres hatte seine Lieblingspflegerin einmal gefragt, was Pferden am meisten Angst mache.

«Der Junge muss einen Leseaufsatz schreiben», hatte Esther gesagt.

«Nur zwei Sachen», sagte Atlee. «Dinge, die sich bewegen, und Dinge, die sich nicht bewegen.»

Eines Nachmittags am Ende eines Dürrejahres ging Atlee an den Weidezaun und liess seinen Doppelschleifenpfiff los, um General zu rufen. Nichts. Er pfiff noch einmal lauter. Und dann noch einmal. Hitze flackerte auf in seinen Kniekehlen und in den Schläfen, und gleichzeitig war ihm in dem Moment so kalt, dass sein ganzer Körper bibberte. Wieder eine Wassermokassin, dachte er. Oder General hat sich im Stacheldrahtzaun verfangen, er blutet, auf seinem aufgerissenen Fleisch landen die Fliegen. Atlee rannte in die Sattelkammer. Er schnappte sich einen Strick und ein Halfter und wollte gerade überlegen, was er sonst noch brauchen könnte, als sein Vater sagte, er solle sich keine Sorgen machen. Atlee konnte ihn kaum hören. Er füllte gerade einen Krug mit Hafer zum Schütteln.

«Ich hab ihn verkauft», sagte sein Daddy.

Atlee stand in der Sattelkammer, den Krug und den Strick in der Hand.

«Uns steht das Wasser bis zum Hals, Junge. Die Frage war: entweder wir verkaufen ihn, damit wir Geld für was zu essen haben, oder wir essen vier Wochen Pferd. Ich hab hin und her überlegt, was dir lieber wäre.»

Atlee musste wohl Dreck im Gesicht haben. Das schmeckte er, als ihm was Nasses in den Mund lief.

*

Ein andermal hatte Tammy dafür gesorgt, dass an Atlees Geburtstag ein Therapiepferd nach Seaside kam. Na ja, ein Pony. Ein Schecke mit einer albernen roten Rosette oben im Schweif, was Atlee hasste. Das Pony kam nicht klar mit den gewachsten Fliesenböden, darum war sein Trainer noch mal mit ihm raus zum Anhänger und hat ihm die Hufe mit Lenkerband umwickelt. Das hat geholfen. Als keiner hinsah, machte Atlee die traurige Rosette ab und steckte das Band in die Hosentasche. Gott, hat das Pferd gut gerochen.

Der kleine Krüppel hatte Kinderrheuma. Alle zwei Tage mussten sie ihm Flüssigkeit aus den Knien rausziehen. Er war sechs oder sieben und hatte zeitweilig überhaupt nicht laufen können. Auf Anraten des alten Doc McKemie hatten seine Eltern sich an Atlee gewandt; sie suchten etwas, was ihr Junge machen konnte und was die Knie nicht belastete. Tammy war inzwischen zu gross für Buttons, hatte die Pferde ganz aufgegeben, wirbelte stattdessen lieber mit dem Tambourstab herum und hing am Telefon, also hatte Atlee die Eltern von dem kleinen Krüppel angerufen und gesagt, sie sollten ihn mal herbringen. Sie kamen in Sandalen auf die Ranch. Keiner von denen hat gewusst, dass man nicht hinter den Pferden langgehen darf oder ihnen Würfelzucker von der Handfläche geben. Aber als Atlee den kleinen Krüppel auf Buttons’ Rücken hob, leuchtete sein Gesicht auf wie an Weihnachten. Und Buttons benahm sich wirklich besser als jemals bei Tammy. Weder versuchte er, den Jungen abzuschütteln, noch rannte er schnurstracks auf den nächsten tiefhängenden Ast zu oder drehte sich nach hinten um und wollte ihm in den im Steigbügel steckenden Fuss beissen. Atlee überlegte, ob er den Eltern was von Buttons’ störrischem Charakter erzählen sollte, aber er wusste, dass das den Jungen Jahre rarer Freude kosten würde. Und er wusste auch, dass Buttons den Jungen niemals abwerfen würde. Die Mutter von dem kleinen Krüppel machte Fotos, und Wochen später bekam Atlee eins davon mit der Post. Ein sonnengetüpfeltes Bild, auf dem sich der Junge mit beiden Händen am Sattelknauf festhielt, und auf der Rückseite stand: «Vielleicht sollten Mamas ihre Kleinen einfach Cowboys werden lassen!»

Als die Chemo nichts gebracht hatte und die Bestrahlungen danach auch nicht, hatte sich Laurel gegen eine weitere Behandlung entschieden; da waren ihre Augen noch gut. Atlee diskutierte mit ihr, aber sie gewann jedes Mal. Sie war fünfzig. Sie wurde immer dünner und konnte sich immer schlechter bewegen und kaum noch sehen, vergass ihren eigenen Namen und wie man isst, vergass, dass sie starb, und es kamen Tage, an denen sie gar nicht mehr wach wurde. Als sie doch mal aufgewacht war, bat sie ihn, sie zu den Pferden zu fahren. Als er ihr erklärte, dass das nicht möglich war, weinte sie und wurde wütend, und da fing er an zu lügen. Sie kämen doch gerade zurück, sagte er, sie hätten einen langen, friedlichen Ritt über die Felder gemacht, sie habe die Zügel lockergelassen, sagte er, und ihrem Pferd in die Flanken getreten, und dann die ganze Zeit in gestrecktem Galopp. Sie liebte das. Und schlief dann lächelnd wieder ein.

Du suchst was Festes? Schaff dir ein Pferd an. Stand auf einem von Laurels T-Shirts.

Er hatte das Fohlen nicht untergehen sehen. Als er es mit dem Feldstecher nicht finden konnte, dachte er, es wär schon rüber über den Fluss. Doch dann spritzte das Wasser plötzlich hoch, als ob es mit einem Mal kochen würde, in der Mitte, wo’s am tiefsten war. Die anderen Pferde hatten ganz glasige Augen, waren hektisch, drängten umso schneller zum anderen Ufer hinüber, als ob einer hinter ihnen her war. Der Kopf des Fohlens tauchte auf und ging wieder unter. Bebende Nüstern. Wilder, herumirrender Blick. Gleich war Atlee auf den Beinen. Kam hinter den Bäumen hervor. Ins Wasser. Bis zur Taille. Die Pferde am anderen Ufer sahen ihn und scheuten. Er ging tiefer rein. Er war dreihundert Meter weg, der Fluss schwerer und rauer, als er je gedacht hätte. Dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffen konnte, machte ihn genauso fertig wie die plötzliche, verzweifelte Erkenntnis, dass selbst wenn…, er wäre keine Hilfe.

Willst du, dass ein Pferd eine Beziehung zu dir eingeht, sperr es auf einer Koppel ein und jag es weg. Sie haben furchtbare Angst davor, verbannt zu werden, abgeschnitten von der Herde, darum wird es nicht lange dauern, und es findet Wege, wie es sich dir nähern kann. Für Atlee war das Schwerste, sich gleichgültig zu stellen, wenn ihn das Pferd durchschaut hatte. Dieses Gewieher, das klang immer wie eine leise Entschuldigung, fühlte sich jedes Mal an wie ein wahnsinnig beglückendes Geschenk.

Laurel hatte immer gesagt, der alte Doc McKemie sehe aus wie Willie Nelson. Sie nannten ihn den rothaarigen Fremden. Als sie nicht mehr da war, als die Pferderanch verkauft und das Land für einen Baumarkt eingeebnet worden war, nachdem Atlee langsam nicht mehr gewusst hatte, wie er vom Restaurant nach Hause kam, fuhr Tammy mit ihm zur Arztpraxis, um über betreutes Wohnen zu reden. Atlee sagte: «Treib mich doch auf die Weide. Ich bin eh schon lange reif.» Seine Tochter und der rothaarige Fremde hatten einen Blick gewechselt. Sie hatten damit gerechnet, dass er scheuen würde. Eine Weile sassen alle schweigend da. Don’t cross him, don’t boss him, he’s wild in his sorrow, riding and hiding his pain.

Auf Sable Island, weit weg von der Küste von Nova Scotia, leben die Wildpferde ausschliesslich von Strandgras. Die Insel ist ein schmaler Halbmond, lang und ohne Hafen, bewohnt allein von Seevögeln und den Pferden. Es gibt dort Hunderte. Der Sage nach stammen sie von Vorfahren ab, die nach Schiffskatastrophen an Land geschwommen sind, aber in Wirklichkeit wurden die ersten Pferde nach der Revolution von einem Geistlichen aus Boston dort ausgesetzt. (Auch so was, wo Atlee sich nie einen Reim drauf machen konnte.) Es sind zottige Braune und Isabellen, kaum grösser als Ponies; über die Jahrhunderte sind ihre Beine kürzer geworden, damit sie besser die ollen Dünen hochklettern können. Die verschiedenen Herden beanspruchen verschiedene Teile der Insel für sich. An der Ostküste ist das Süsswasser so knapp, dass sie mit ihren Hufen Löcher buddeln müssen, um Quellen zu finden, die unterm Sand sprudeln. Atlee hatte von der Insel geträumt, war aber natürlich nie dort gewesen. Er war überhaupt noch nie in ein Flugzeug gestiegen.

Ein Trupp mexikanischer Soldaten, die nach Norden zum Alamo ritten, war überraschend in einen Blizzard geraten. Sie sassen in den Bergen fest. Die Nasen ihrer Pferde froren zu, so dass die Soldaten ihnen das Eis aus den Nüstern schlagen mussten. Sie nahmen dafür ihre Gewehrkolben. Jedes Mal, wenn Atlee darüber las, hörte er ein dünnes, schönes Knacken. Er sah verzweifelte Wolken von warmem Atem aufsteigen wie Signale.

*

Nachdem Tammy Seaside Acres an jenem heissen Nachmittag, als sie über Buttons sprachen, wieder verlassen hatte, fühlte sich Atlee ausgelaugt und schlaff. Er versuchte, sich die Unterhaltung noch mal ins Gedächtnis zu rufen, versuchte, sich zu erinnern, ob sie einen nächsten Besuch geplant hatten. Er liess das Abendessen ausfallen, und dann kam Esther nach ihm schauen.

«Hier hat wohl einer ’n Herz, so schwer wie ’n Eimer voll Hufeisen», sagte sie.

Er kam nicht auf die rechten Worte, drum tat er so, als würde er sich was von seiner Jeans zupfen.

Esther fuhr mit den Fingern über das geschnitzte Zaumzeug des Karussellpferds. Ein paar von Atlees Anziehsachen waren darüber drapiert; an einem der hölzernen Ohren hing sein Bolotie.

«Der Junge bettelt in einer Tour, er wolle ein Pony, und ich sag, komme gar nicht in Frage», sagte Esther. «Ich sag, darüber redeten wir, wenn ich mal halb so viel wie Atlee Rouse von Pferden wisse. So lange bleibe sein Drahtesel das Einzige, wo er drauf reiten könne.»

Atlee wollte sich ausruhen, er wollte seine Ruhe haben. Seine Gedanken trieben immer wieder ab, wie Zweige auf einem reissenden Strom. «Die Pferde waren mir gegeben», sagte er.

«Was sagst du, Schätzchen?», fragte sie. «Pferde waren dein Leben?»

«Ja», sagte er, «das auch.»

Ein Pferd, das mit Vorliebe einen orangenen Leitkegel in seiner Box rumgeschubst hat. Ein Pferd, das die Trense erst genommen hat, wenn du ihm Honig draufgeschmiert hast. Ein Pferd, das vor jedem Angst gehabt hat, der einen schwarzen Hut aufhatte. Ein Pferd, das dir die Brieftasche klauen konnte, ohne dass du’s gemerkt hast. Laurels Pferd.

Wenn zwei Pferde lange getrennt waren, schmiegen sie sich mit den Nasen aneinander, und jedes atmet den Atem des andern ein; das ist ihr Händeschütteln, ihre Umarmung, ihr «Willkommen daheim». Ein Pferd kann seine eigene Nase nicht sehen, aber wenn es mit gesenktem Kopf grast, dann sieht es die ganze Weide. Jedes Auge sieht was anderes, sie sehen also immer zwei Dinge gleichzeitig. Wenn du ein Pferd aus einer brennenden Scheune bringen willst, musst du ihm eine Decke über den Kopf legen. So brechen sie nicht in Panik aus. Atlee hatte das nie tun müssen. Dem Himmel sei Dank.

Atlee war so auf das Fohlen fixiert gewesen, dass er den Hengst gar nicht bemerkt hatte. Der war mit einem Mal im Wasser – verblüffenderweise, unglaublicherweise – und tauchte den Kopf ein, genau an der Stelle, wo das Fohlen untergegangen war. Vorhin hatte sich Atlees Herz so angefühlt, als wär’s zu gross, und jetzt war alles an ihm zu klein, zu schwach, zu unmassgeblich. In der Art, wie das Pferd untertauchte, schien so viel Gewalt zu liegen, so viel Wut, wie es den Kopf ins Wasser donnerte. Atlee hörte die Schläge. Als der Hengst wieder hochkam, mit den Zähnen die Mähne des Fohlens umklammernd, verstand Atlee nicht gleich, was er sah. Das Fohlen schien weniger geworden, als ob es geschrumpft war. Als ob es ertrunken war. Aber das war es nicht.

Der Hengst hielt es etwa auf der Hälfte zwischen Ohren und Widerrist gepackt, so lief er mit ihm bis ans andere Ufer und liess es erst wieder los, als das Fohlen auf seinen wackligen Beinen stand. Der Hengst kletterte vor ihm die Uferböschung hoch, und das Fohlen kam torkelnd hinterher. Immer noch überquerten andere Pferde den Fluss und gingen an ihm vorbei, aber schliesslich folgte es ihrer Fährte, und die Herde nahm es in die Mitte.

Atlee stand zitternd im Fluss, bis auch die übrigen drüben waren. Dann ging er zu seinem Truck zurück und wrang notdürftig seine Sachen aus. Er fuhr den schwarz asphaltierten Highway lang, bis er eine Tankstelle mit einem Münzfernsprecher fand. Er rief Laurel an – ein R-Gespräch. «Was macht man bloss, wenn man mit so einem Geizkragen verheiratet ist?», scherzte sie, aber er redete schon drauflos. Er konnte nicht warten. Er erzählte ihr von dem Rancharbeiter und der ersten Nacht in der Ebene. Vom donnernden Lauf der Herde und dass es ausgesehen hatte, wie wenn eine riesige Fahne entrollt würde, eine Welle, die sich auf dem Weg zum Ufer bricht, ein Band aus rotem Rauch, das aufgerollt und unerbittlich weggerissen wird. Er erzählte ihr, wie er sie durch das Fernglas beobachtet und dann den Feldstecher runtergenommen und die Augen geschlossen hatte und gelauscht, wie sie im Abendlicht verschwanden, wie das Getrappel ihrer Hufe verhallte wie ein abziehendes Gewitter. Er erzählte ihr von der Wühlnatter und der Krötenechse und dem Fohlen und dem Hengst.

«Du hast mir auch gefehlt», sagte sie zärtlich, als er fertig war.

«Wir kommen noch mal wieder und sehen sie uns an», sagte er. «Wir besuchen Celia und nehmen Tammy mit.»

«Du kannst sie überraschen, wenn du heimkommst. Sie wird sich freuen, dass du noch so aus dem Häuschen sein kannst.»

«Wird gemacht», sagte er.

Doch als er nach Hause kam, mussten die Ställe ausgemistet werden, und eins von den Quarter Horses hatte eine Kolik, und der Weidezaun war zur Hälfte umgefallen. Dann kam Laurels erster Arzttermin, dann alles, was folgte, dann gab’s zu viel andere Dinge, über die geredet werden musste, zu viele Entscheidungen, die zu treffen waren, und so hatte er es nie geschafft, seiner Tochter von Salt River zu erzählen. Manchmal, besonders nachdem Laurel vergessen hatte, dass sie das alles schon gehört hatte, erzählte er ihr einiges davon noch mal, aber nie jemand anderem. Für den Rest seiner Tage blieb es eine Sache zwischen ihnen beiden – zwischen ihm und ihr und den Pferden. Und dann war sie nicht mehr da, und die Pferde, klar, die natürlich auch, und da war’s nur noch seins, seins ganz allein. Ein vergänglicher Moment, zerfliessend und formlos, eine Geschichte, die gar keine Geschichte war, sondern irgendwas mit Pferden, das in seinem Schädel festsass, eine Erinnerung, die weder einen Anfang noch eine Mitte noch ein Ende hatte.


Mit vorliegender Kurzgeschichte gewann Johnston den Sunday Times EFG Short Story Award 2017. Sie erscheint hier erstmals auf Deutsch.


Arianna Vairo
ist Illustratorin und Grafikerin. Sie lebt in Mailand.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!