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«Vokale sind Räume, Konsonanten Schwingungen, Satzzeichen Pausen – dazwischen entsteht Musik»

Über die Musikalität der Sprache, die Intelligenz des Ohres und Melodien als Honig zum Text.

«Vokale sind Räume, Konsonanten Schwingungen, Satzzeichen Pausen – dazwischen entsteht Musik»
Melinda Nadj Abonji, fotografiert von Paolo Dutto / 13 Photos.

Frau Nadj Abonji, im November haben Sie an der Universität Zürich eine Poetikvorlesung gehalten und unter anderem über das Ohr gesprochen. Welche Rolle spielt es in der Poetik, der Literatur?

Zunächst hat das Ohr für mich viel mit Sprachkritik zu tun – hinhören! Zum anderen ist es ein Organ, das ganz nahe an der Vernunft liegt, den Verstand begleitet. Dabei ist es in einem gewissen Sinn sogar «intelligenter» als der Verstand, weil es die sinnliche Komponente miteinbezieht. Über die Sinnlichkeit «weiss» ich mehr, als ich weiss.

Wie, mehr?

Wenn Wörter in einem Text nicht stimmen, merke ich das mit den Ohren schon früh. Das ist aber kein sehr rationales Wissen. Ein Beispiel: Ich habe vor kurzem einen Essay geschrieben, in dem ich meine allererste Zeit in der Schweiz schildere. Ich war fünf Jahre alt und wohnte bei einem Ehepaar in der Dachkammer. Die kleine Kammer war sinnbildlich für meine Situation: ich war allein und eingesperrt, nicht zuletzt sprachlich; ich verstand dieses Ehepaar nicht, und sie verstanden mich und mein Ungarisch nicht: Ich hatte eine Sprache, die mir aber nichts mehr nützte. Beim Schreiben merkte ich, dass «Dachkammer» mit diesen zwei «a» vor diesem Hintergrund zu hell klang, und fand das Wort «Dunkelkammer». Dass dieser Begriff auch in seiner Bedeutung sehr gut passte – auch die Camera obscura ist ein sehr fragiles, störungsanfälliges Gebilde –, wurde mir erst später bewusst. Der Klang bringt mich auf eine Spur, und später verstehe ich, warum.

Ich habe schon mindestens zweimal erlebt, dass Sie an Lesungen unvermittelt zu singen begonnen haben. Können Sie mit Liedern, mit Musik etwas ausdrücken, woran «nur» Sprache nicht reicht? Ist die Musik die Sprache, die Sie, ohne Bruch, immer hatten?

Ich hatte sicher nie das Gefühl, die Musik «verloren zu haben». Meine Grossmutter sang immer viel, und diese Lieder waren immer da, auch wenn ich die einzelnen Texte vielleicht zwischendurch nicht präsent hatte. Ja, man kann wohl sagen, dass die Musik für mich unbelasteter ist.

Wenn Sie singen, dann auf Ungarisch.

Ja, eigentlich nur. Das geht nicht auf Deutsch.

Warum nicht?

Wahrscheinlich hat es mit dem Sitz der Sprache zu tun. Im Ungarischen gibt es Buchstaben – Konsonanten, Diphtonge –, die dem Deutschen fehlen: mehr klingende, stimmhafte Buchstaben vor allem. Dazu kommt, dass man sich beim Singen ja nicht im gleichen stimmlichen Spektrum bewegt wie beim Sprechen. Die Sprechlage umfasst bei den meisten Menschen etwa eine Quarte, man bewegt sich immer in einem ähnlichen Bereich. Beim Singen kommt man viel höher und viel tiefer. Das setzt andere Energien im Körper frei. Beim Singen spüre ich eine Freiheit, die ich nicht mit dem Deutschen zusammenbekomme. Ich hab’s versucht, mit Schubert, mit Brecht/Weill. Das sind wunderschöne, kräftige Lieder, die Texte sind stark – aber der Sitz meiner Stimme stimmt für diese Lieder einfach nicht.

Verfallen Sie dann also eben genau dann ins Singen, wenn Sie etwas mit Sprache nicht mehr ausdrücken können?

Offenbar merke ich das manchmal gar nicht! Aber ja, wenn die Freiheit da ist, das zu tun, geschieht das Singen unwillkürlich. Bei meinem letzten Roman «Schildkrötensoldat» war es so, dass ein kleines Volkslied – eines, das im Gegensatz zu vielen anderen nicht im Text zitiert ist – sehr wichtig war für das Buch. Dieses Lied singe ich dann jeweils an den Lesungen, wenn der Rahmen es zulässt. Natürlich kann man so etwas anderes transportieren als mit der «reinen» Lesung. Ich finde es auch schön, dass die meisten Leute den Liedtext nicht verstehen, sich so ganz auf die Klangebene begeben, sich mittragen lassen können. Aber hinterher erläutere ich den Text. Nur ungarische Lieder zu singen, und die Leute verstehen nichts, würde mich nicht befriedigen.

Hätte mich auch gewundert. Sie haben einmal in einem Interview gesagt, auch bei Liedern sei für Sie der Text alles.

Ja! Ich gehe immer vom Text aus. Die Melodie – das, was für die meisten dann so berührend ist – ist für mich überhaupt nicht der Ausgangspunkt. Natürlich mag ich Lieder, die eine schöne Melodie haben. Aber sie müssen zuerst einen guten Text haben, sonst sind sie für mich nicht interessant. Da setze ich ganz klare Prioritäten. Es sind gute Texte, die mich dahin führen, dass ich beim Singen ganz in der Musik aufgehe.

Kaufen Sie auch Popmusik «wegen der guten Texte»?

Auf jeden Fall – zum Beispiel die von Laurie Anderson. «Big Science» von 1982 ist für mich nach wie vor eine Herzensplatte. Sie klingt zwar mit den typischen Synthis auch ziemlich nach 1982, aber davon kann ich problemlos abstrahieren. Dass die Texte gut sind, ist die wichtigste Ebene.

Sprechen wir nicht auch deshalb so oft – vielleicht zu oft – über Songtexte, wenn wir über Musik reden, weil Wörter eben leichter in Sprachform zu verhandeln sind?

Das ist nochmals eine andere Geschichte. Mir ging es vor allem darum, wie ich an einen Song herangehe. Die Melodie – «meli» heisst auf Griechisch Honig – kommt erst am Schluss. Ich möchte vermeiden, dass man in eine undifferenzierte Gefühlsstimmung hineinkommt, und der Text wird lediglich zum Beigemüse. Sorry, so wird es doch oft gemacht. Aber bei der Rezeption: einverstanden. Über Texte kann man wunderbar sprechen, und ich tue das gern und ausführlich. Aber zu beschreiben, was Musik macht, ist etwas vom Schwierigsten überhaupt.

Bei der Recherche zu diesem Heft habe ich oft gehört, Sprache sei doch bereits Musik. Können Sie mir das erklären? Worin besteht die Musikalität der Sprache?

Vokale sind Räume, Konsonanten sind Schwingungen, vor allem die stimmhaften Konsonanten, wo man die Stimmbänder richtig spürt. Von einem O zu einem A zu kommen ist eine ganz andere Bewegung als von einem O zu einem I. Die Bewegung zwischen den Vokalräumen, über die Konsonantenschwingungen hinweg – das ist Musik. Aber auch die Möglichkeiten der Zeichensetzung sind ein wichtiger musikalischer Aspekt. Kommata, Punkte, Semikola, das sind Pausen, die man setzt, um den Sprachrhythmus zu steuern. Nur weil die Zeichensetzung heute oft sträflich vernachlässigt wird, heisst das ja nicht, dass sie nicht wichtig wäre. Das Semikolon etwa sagt uns, dass ein Gedanke noch nicht zu Ende ist, und das hat Implikationen für die Stimmführung: wir senken die Stimme nicht, wir halten sie, und der Gedanke geht nach kurzer Pause weiter.

Sie sind auch Musikerin, spielen Geige. Warum eigentlich noch Instrumente, wenn doch in der Sprache schon so viel Musik liegt?

Ein Grund, wieso ich Musik mache, war immer schon, dass ich dort das Gefühl hatte: Ich kann hier einfach machen, was ich will. Die Sprache ist ja sehr konservativ, es braucht viel, um von all ihren Setzungen und fixen Bedeutungen wegzukommen, die sie mit sich bringt. Man wird ja in eine Sprache hineingeboren. Kein anderes künstlerisches Medium ist so konservativ wie
die Sprache.

War die extrem assoziative, rhythmische Sprache des Aussenseiters Zoltán, der träumerischen Hauptfigur in «Schildkrötensoldat», ein Versuch, dieses Korsett zu sprengen?

Auf jeden Fall. Aber ich merke auch: Die einen Leser finden da einen Zugang, andere nicht. Bei der Musik ist das Referenz­system viel weniger starr.

Auch Ihre Texte selbst führen Sie regelmässig und mit verschiedenen Musikern auf – zum Beispiel mit dem Multiinstrumen­talisten Balts Nill oder schon seit 20 Jahren mit dem Beatboxer Jurczok 1001. Es «funktioniert» ja beileibe nicht jede solche Kooperation – was braucht es, dass Literatur und Musik einander auf der Bühne befeuern und nicht in die Quere kommen?

Gute Frage. Schwierige Frage. Es braucht sehr vieles. Ich kann auch nur mit wenigen Musikern zusammenarbeiten. Bei Balts Nill ist es die Magie, wie er es schafft, mit minimalsten Mitteln
extrem kraftvolle Stimmungen, Sphären zu schaffen. Bei Jurczok 1001 haben wir die einzigartige Kombination, dass wir beide für Sprache und Musik brennen. Da beissen sich die Ideen auch einmal, und genau das ist wichtig. Das Schlimmste ist, wenn Musik und Text sich gegenseitig einlullen, rein begleitend. Ich habe schon den Anspruch, dass in der Begegnung etwas Neues entsteht. Es darf nie illustrierend sein. Einfach ein bisschen Musik dazu, weil das die Gefühle anspricht, so ein bisschen die Leute abholen, etwas heraufbeschwören, das der Text allein nicht bringt – da wird es zumindest suspekt.

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Stefan Bachmann, fotografiert von Maurice Haas / Diogenes Verlag.
Charlotte Brontë und das Nichts

Sein Debüt wurde in den USA ein Riesenerfolg, da war er gerade 20 Jahre alt. Weniger bekannt ist: Fantasy-Autor Stefan Bachmann ist auch ausgebildeter Musiker. Aber wie kommt jemand überhaupt auf die Idee, zu schreiben oder Musik zu machen?

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