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Meinen lieben Geschöpfen des achten Tages

Ein Brief

Meinen lieben Geschöpfen des achten Tages
Rose-Marie Pagnard, photographiert von Sébastien Agnetti / OFC.

Man fragt mich, in welcher Beziehung ich zu euch stehe, zu euch, den seltsamen Personen, den halb und ganz Verrückten, die in meinen Romanen zu Werke sind, doch ich finde keine klare Antwort, eigentlich kommt mir nur die oben aufgeführte Widmung in den Sinn, eine Widmung, die ich mit Milch malen möchte, am liebsten mit der Milch, die in einem Kessel auf einem Karren gezogen wird, von Elsi, dem jungen Mädchen aus dem «Durcheinandertal»,1 eine Flüssigkeit von unschuldiger Farbe, vermischt mit dem Blut und dem Sperma monströser Mörder und Vergewaltiger. Oder dann werde ich sie mit reinem Wasser malen – falls man das noch findet –, aber wo, worauf? Auf den Schnee hier und den Sand dort? In der kosmischen Werkstatt der Fiktion? Auf den Regenschirm, mit dem ein sechzehnjähriger Gymnasiast, Eddie Wesseling,2 «den aus dem Unsichtbaren geholten Wahnsinn und die Gewalt und den Hass aus dem Nichts» einberuft? In die schillernde Gruft der Burger’schen, Strindberg’schen Qualen? Oder auf den Grund des gemalten Schiffes an meiner Zimmerwand, das darauf wartet, dass ich an Bord gehe?

Ich verspüre ein wahres Glücksgefühl beim Bekunden meiner Dankbarkeit, indem ich euch «Liebe» nenne, «meine Lieben», indem ich mir in meinen Geschichten besonders bildhafte Rollen für euch ausdenke, ja, das ist eine schöne Widmung, auch eine aufrichtige (und sie könnte als Grabinschrift dienen am Tag, an dem der Mensch und die Kunst von diesem Planeten verschwunden sein werden).

Unsere Beziehungen sind innig, im Herzen meiner Gedanken, dieser Gedanken, Träumereien, Visionen, die kriechen, wirbeln, auf etwas warten, wenn ich schreibe: auf einen Zauber, einen Zufall, ein Zeichen, eine radikale Abzweigung der Geschichte, eine Freude, ein Auflehnen, eine unwiderstehliche Faszination für das Surreale, das in meiner Weltsicht so «normal» ist, warten vielleicht auf ein Mögliches, plötzlich auserwählt aus der Menge der Möglichkeiten. Deshalb nenne ich euch mein.

Dazu kommt, dass ich euch ein Leben gegeben habe, ein Fortdauern, einen Namen, eine Wirklichkeit – gewiss, beschränkt auf den physischen und subjektiven Raum eines Buches, aber doch Wirklichkeit, das ist zweifellos der fassbarste Bezug zu euch, den Abnormalen, den Irren, den Spezialfällen.

Meine lieben Geschöpfe, also. Und doch so rätselhaft, so widerspenstig gegen Erklärungen. Die Irren, die frei durch die kleine Stadt meiner Kindheit spazierten und die ich sehr nett fand, der tägliche Besuch im Malatelier eines Künstlers mit seiner Bilderwelt, die rasenden Weiber mit entblösster Brust, die verrückten Frauen, die mir die Hände küssten, eingeschlossen in jener Klinik, in der ich meine eigene Tochter besuchte, eine gewisse Art, das Wort «Mama» zu vernehmen… Diese Erfahrungen könnten das Geheimnis eurer Anwesenheit zerstören, aber nichts ist weniger sicher.

Hier stelle ich mir den achten Tag vor, ich meine, den achten Tag der Schöpfung, um einen bezifferten, einfachen und bequemen Massstab für den Ursprung aller Dinge zu verwenden. An jenem Tag: überall Musik, Besiegelung des Pakts, alt wie die Welt, zwischen Fantasie und Wahnsinn, Dinge und Stimmen überall, Poesie überall, Papier, Unterschrift, Pakt, in dem die Melancholie nicht fehlt, die ewige Melancolia, den Kopf auf die Hand gestützt, vielleicht meine eigene Hand. In Wahrheit sollte ich nicht von einem Tag sprechen, dem achten oder einem anderen: man könnte daraus schliessen, dass ihr, Zaubergeschöpfe, in einem bestimmten Moment erscheint, einem aussergewöhnlichen Moment, wo es doch die ganze Zeit ist, ja die ganze Zeit, in der ihr handelt oder nicht handelt in den Geschichten, die ich schreibe, in diesen erfundenen Welten. Ihr bringt die Karten durcheinander und macht sie gleichzeitig unverwechselbar.

Sogleich taucht vor meinen Augen das Bild der «Anatomiestunde» von Rembrandt auf, wie W. G. Sebald in den «Ringen des Saturn»3 davon spricht, indem er uns auf die Vertauschung der linken Handfläche mit dem rechten Handrücken des sezierten Körpers aufmerksam macht, eine Vertauschung, die der Maler absichtlich vorgenommen habe, um die Gewaltsamkeit des Todes zu zeigen, aber gleichzeitig auch diese Art Dunst, Halbtraum, in dem derjenige sich befinde, der mittels der Kunst das menschliche Wesen in einem nicht kartesianischen Geist erfassen wolle. Dieses Bild ist mir nicht zufällig wieder in den Sinn gekommen, ich glaube, es betrifft auch, letztendlich, diesen nebulösen achten Tag: hier werden ganz reale Menschen, die Rembrandt gekannt hat, in Geschöpfe des Malers verwandelt, um – auf dass der Betrachter sich nicht abwende, sondern mit seinen Augen, seiner Fantasie und seiner Mitleidsfähigkeit schaue – eine so fürchterliche Szene darzustellen, dass man sie ohne diese künstlerische Umsetzung nicht ertragen könnte. Der Wahnsinn schwebt über der Szene, so das Genie des Malers, so der zwingende Schritt zur Vollendung des Werks. Alle diese möglichen Vertauschungen! Die Kunst ist ein Zugang, eine Tür, die Kunst enthält die Fantasie, die den Wahnsinn enthält, der die Kunst enthält, die wiederum verloren und gerettet ist, durchgeschüttelt wie Elsis Milch in einem Kessel mit unerträglichem Widerschein, alle wissen das, ihr wisst es, liebe Geschöpfe, manchmal hassenswerte, auch wenn es mir nicht obliegt, über euch zu urteilen.

Man findet euch also in meinen Romanen, die von Familien erzählen, von Kindern, von Jugendlichen, von Künstlern, Romane, die von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sprechen, von Gefühlen und Hirngespinsten, die eine Handlung haben, Anfang und Ende, die leicht vom Zirkus zum Friedhof führen. Die es ohne euch nicht geben könnte, euch Spezialfälle: Robert möchte das ganze Leben lang sechzehn sein; Horst hört die Dinge ihn anflehen, er möge sie verrücken; Madame Swan verkauft ihren Sohn für ein kleines Musikreich; der Maestro Feierlich bezahlt für einen nicht begangenen Kindsmord; Ennry spricht zu einer grossen Bronzevase in einem Museum in Tokio; Léonard, der Stuntman, schreibt fürchterliche Gedichte… Seid ihr Nebenfiguren? Allegorien? Ja und nein. Meine Meinung zählt nicht. Ihr wollt geliebt werden, das weiss ich (aber zu wissen, ob der Wahnsinn, im wahren Leben, nicht die Möglichkeiten des Mitleids übersteigt…). Ihr dient mir vielleicht als Parade gegen den Tod und sicher als Antwort auf die Banalität, die Bosheit, die Langeweile (die Langeweile vor allem, dieser Zustand ohne Trunkenheit). Für den Leser – so scheint es – trägt ihr seltsame Farben, seltsame Gesichter, ich beschreibe euch nie ganz, wie wenn zwischen uns vereinbart wäre, dass ihr frei seid, frei! Nein! Ich zappe und bitte euch, an der Schwelle des Wahnsinns zu bleiben, oder nicht zu weit weg.

Gerade habe ich die Kurzgeschichten von Flannery O’Connor wieder gelesen: Nichts als Irre finden sich da, die Faszination der Autorin für solche Personen erreicht eine gefährliche Grenze, ohne dass man jedoch von O’Connor sagte, sie leide selbst an einer psychischen Krankheit.
Gäbe es da einerseits Autoren, die, an einem verbürgten psychischen Leiden erkrankt, aus den wundersamen, tiefen und manchmal überluziden Strudeln ihrer Krankheit schöpfen, und andrerseits die vom Wahnsinn angezogenen Autoren, die es schaffen, an seiner Schwelle stehen zu bleiben? In meinem Roman «Janice Winter»4 fürchtet sich ein junger psychisch Kranker, Horst, über alles davor, nachts in einer Ambulanz weggebracht zu werden, oh! welche Angst macht ihm das! Und ich schreibe das, ich schreibe den ganzen Tag lang Nacht/blaue Scheiben/Trage/Riemen/Ohnmacht, und abends dann, in meinem Bett, wird mein Oberkörper von Schmerz geschüttelt, so dass man mich mitten in der Nacht mit der Ambulanz ins Spital bringt, wie Horst. Purer Zufall. Unmöglich, dass uns zustösst, was uns in der Fiktion gleicht. Aber nichts ist sicher. So ändere ich denn meine Widmung, schreibe einfach:

 

Meinen lieben Romanfiguren             Gezeichnet: eure aufmerksame R.-M.P.

 


1 Friedrich Dürrenmatt: Durcheinandertal. Zürich: Diogenes, 1989.
2 Held des Romans «De redding van Fré Bolderhey» (1948) des niederländischen Autors Simon Vestdijk.
3 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Frankfurt am Main: Eichborn AG, 1995.
4 Rose-Marie Pagnard: Janice Winter. Paris: Rocher, 2003 (Seuil, coll. Points, 2005).

 

Übersetzt von Ruth Gantert

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Hôpital de Prangins, Haute-Rive, photographiert von Claudia Mäder.
An den Gestaden des Genfersees

Nach Prangins kommen heute bestenfalls ein paar Kulturtouristen, um das Nationalmuseum zu besuchen. Einst aber gaben sich hier internationale Literaturberühmtheiten die Klinke in die Hand – um sich oder ihre Liebsten in Dr. Forels Privatklinik behandeln zu lassen. Ein Ausflug ins Waadtland und ins Leben dreier Frauen.

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