Im Wald
Wir sind uns im Wald begegnet. Du lagst schlafend unter einem Baum, auf dem Gesicht ein Lächeln. Mehr als ein Lächeln, den Ausdruck vollkommener Ruhe und Gelassenheit. Ich wollte dich nicht stören. Dein Schlaf schien so licht wie der Wald. Ich habe mich neben dich auf den Boden gesetzt, die Beine angezogen und sie mit […]
Wir sind uns im Wald begegnet. Du lagst schlafend unter einem Baum, auf dem Gesicht ein Lächeln. Mehr als ein Lächeln, den
Ausdruck vollkommener Ruhe und Gelassenheit. Ich wollte dich nicht stören. Dein Schlaf schien so licht wie der Wald. Ich habe mich neben dich auf den Boden gesetzt, die Beine angezogen und sie mit den Armen umschlungen. Zwei Bilder, ich und du, vor demselben Hintergrund. Kann man sich verlaufen, wenn man kein Ziel hat? Wärst du erwacht, ich hätte dich nach dem Weg gefragt. Du hättest mich angeschaut, mit dem Ernst der Erwachenden, und gesagt, es gibt keine Richtung im Wald. Du folgst den Pfaden, die nirgendwohin führen oder dahin zurück, woher du gekommen bist. Du erkennst Orte wieder oder du erkennst sie nicht wieder. Der Wald ist wie ein Punkt, er hat keine Ausdehnung.
Wie lange hast du unter dem Baum gelegen? Ich werde dich fragen, wenn du aufwachst. Und du wirst den Kopf schütteln mit
einem tadelnden Ausdruck im Gesicht. Nein, nein, nein. Im Wald gibt es keine Zeit. Er ist wie der Schlaf, in den man versinkt.
Und wenn man wieder auftaucht, sind drei Minuten vergangen oder dreihundert Jahre, es macht keinen Unterschied. Die Äste
filtern die Zeit. Auf dem Waldboden flirren die Augenblicke wie das Licht. Ich frage dich, gibt es Tiere in deinem Wald, vor denen ich mich in acht nehmen muss? Du runzelst die Stirn. Aber nein. Weshalb solltest du dich fürchten? Die Blätter der Bäume fallen zu Boden und verrotten, um wieder zu dem zu werden, was sie einmal gewesen sind. Und so ist es mit den Tieren. Das eine wird zum anderen. Der Wald verdaut sich selbst. Er erhält sich am Leben. Solange er steht, stirbt nichts in ihm.
Ich stelle ihn mir vor, deinen Wald. Bäume, wie ich sie noch nie gesehen habe, die Äste so weit voneinander entfernt, dass nur sehr geschickte oder waghalsige Tiere vom einen zum nächsten springen können. Früchte wachsen an diesen Bäumen, seltsam geformte Früchte mit ledriger Haut, mit Stacheln oder Buckeln. Du zeigst mir, welche geniessbar sind, nennst ihre Namen, die fremd klingen in meinen Ohren. Du pflückst eine Frucht, schälst sie, deine Finger versinken im Fruchtfleisch, das nachgibt und dann bricht. Es ist gelb oder weisslich oder blutrot wie unser Fleisch. Als die Frucht sich teilt, ist es mir, als könne ich es hören. Das Geräusch dringt in sie ein wie deine Finger. Eine Hälfte isst du selbst, die andere steckst du mir in den Mund. Sie ist saftig, aber fast geschmacklos. Erst allmählich entsteht der Geschmack, als habe mein Gaumen ihn übersetzen müssen aus einer fremden Sprache. Lange hast du geschlafen. Vielleicht schon immer. Als du erwacht bist, bist du weggegangen. Es war dasselbe: erwachen hiess weggehen.
Wie erinnerst du dich an deinen Wald, jetzt, wo du fern von ihm bist? Wie an ein Haus, in dem du gewohnt hast? Wie an einen
Menschen, den du geliebt hast? Erinnerst du dich, im Wald geschlafen zu haben? Erinnerst du dich an deine Wege? Ist deine
Erinnerung ein Wort oder ein Gefühl oder ein Bild?
Ich setze mich neben deine Erinnerung. Ich nehme deinen Platz in ihr ein. Ich lege mich hin, das Ohr auf dem Boden, als lauschte ich auf deine Schritte. Dann schlafe ich ein, auf dem Gesicht ein Lächeln, und der Wald ergreift von mir Besitz. Käfer
laufen über mich und Spinnen. Moos wächst auf mir. Die Wurzeln der Bäume umarmen mich, umschlingen mich und dann, als sei ich schon zu Erde geworden, wachsen sie durch mich hindurch. Ich zersetze mich im Schlaf, aber wenn ich erwache, werde ich der sein, der ich gewesen bin. Du stehst vor mir, streckst mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Du hast dich an mich erinnert.
Wir gehen hintereinander her. Wir gehen wie Tiere, schnell, aber ohne Hast. Die Pfade sind zu schmal für uns beide. Im Wald ist
jeder für sich, sagst du, und doch ist keiner allein. Dein Wald ist ein geschlossener Raum mit vielen Wänden. Er ist die Bäume und das, was zwischen ihnen ist. Der Wald ist die Früchte und die Tiere und das gefangene Wasser. Alle unsere Wege führen durch den Wald. Unser Atem geht durch den Wald. Wir sind der Wald, wie wir in ihm sind. Als du stillstehst, bist du kaum von den Bäumen zu unterscheiden. Ich gehe an dir vorbei, lasse meine Hand kurz über den schlanken Stamm streichen und spüre die glatte Haut und eine kleine Unebenheit, die Narbe einer alten Verletzung. Du errötest und wendest dich ab. Meine Berührung ist wie die des Windes, die jeden Baum erfasst, bis die Summe der Bewegungen zu etwas Gewaltigem wird, zu einem Rauschen. Wohin ich mich wende, überall sehe ich nur dich, dein scheues im Drehen Sichneigen. Alles wendet sich von mir ab für einen schrecklichen Augenblick und federt dann zurück, und es ist, als sei nichts geschehen.
Du hast den Wald in dir. Er ist deine dunkle Materie. Ich sehe den Wald in deinen Bewegungen und in deiner Ruhe, in deiner Scheu und in deiner Gewalt. Ich höre ihn in deiner Stimme, die leise ist, aber trägt. Du schläfst wie eine, die aus dem Wald kommt. Wenn du die Augen öffnest, kann ich den Wald in ihnen sehen.