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Königsdisziplin!

Geächtete Grenzverletzung: Vergnügte Sinnlichkeit scheint denen suspekt, die Literatur definieren. Dabei ist die Sprache das ideale Medium, Sex in Kunst zu fassen.

Königsdisziplin!
Illustration: Ulli Lust

 

Nennen wir ihn um der Literatur willen Franz. Er ist sexsüchtig, und Pornografie hat ihn zeit seines Lebens be­gleitet, damit ist Franz alt geworden. Laster und Obsessionen, Schamlosigkeiten und die vielen Spielarten seiner Sucht sind der Treibstoff für eine Existenz, die der religiösen Massgabe, Leben als Jammertal zu betrachten, vehement widerspricht. Es wird wohl eine Kindheitsprägung gegeben haben, aber dafür hat er nicht den Hauch eines Bewusstseins, und irgendwann spielt es auch keine Rolle mehr. Stattdessen eine Erinnerung: Als Babysitter ist er bei einem Arbeitskollegen seines Vaters beschäftigt. Das Ehepaar geht aus, das zu beaufsichtigende Kind ist vielleicht fünf Jahre jünger als Franz; kaum schläft es, inspiziert er das Haus und stösst auf eine Pornosammlung, die unglaublich und absolut umfassend ist. Es gibt da wirklich alles: Groschenromane und in Leder Gebundenes, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays. Franz ist im Paradies; und während der folgenden Tage und Wochen freut er sich darauf, in jenem Haushalt wieder babysitten zu können. Wie er das nächste Mal gerufen wird, wie er kaum erwarten kann, bis die Eltern endlich das Haus verlassen, wie er endlich allein ist und das Kind schläft, rennt er los. Das Zimmer ist versperrt. So muss sich Luzifer gefühlt haben, als er aus dem Himmel geworfen wurde.

Franz wird zum Pornografen. Immer interessiert ihn al­lerdings ausschliesslich Geschriebenes. Grenzverletzungen dürfen sich gerne in seinem Kopf abspielen, aber nicht in der Realität. Der Film braucht Leute, er braucht Menschen, Frauen hauptsächlich und Männer. Ihnen wird in vielen Werken Gewalt, und zwar nicht gespielte, sondern echte Gewalt, angetan. Franz verabscheut am lebendigen Leib ausgeübte Gewalt. Die Degradierung des Menschen zum Menschenmaterial gehört, da man sie offenbar nicht verhindern kann, in den Untergrund verbannt. Die zärtliche Penetration hingegen, das liebevolle Überschreiten von Körpergrenzen… Ist es nicht bizarr, dass
Gewalt in allen drastischen Details gezeigt werden kann, aber die weibliche Brustwarze manchenorts ein Skandal bleibt?

Geschriebenes also. Medium haben die wenigen Buchstaben des Alphabets zu sein. Ihr Kombiniertalent ermöglicht eine sagenhafte Vielfalt, auch wenn es am Ende doch nur Buchstabenzuordnungen sind. Und so liest Franz alles, was ihm in die Finger kommt. Auch Werke, die ihn verletzen und verstören und denen er niemals wieder begegnen will. Vom Tiefsten also, das sich mit der Selbstverständlichkeit des Tiefen überallhin breitzumachen versteht, bis hin zum raren Höchsten, zur makellosen Literatur, die geil und toll geschrieben ist. Nichts ist Franz fremd – und wenn ein pornografisches Werk das Interesse der Massen wecken und zum Bestseller werden kann, dann freut ihn das, ob das Buch ihm gefallen hat oder nicht.

Franz beginnt, selbst Bücher zu schreiben; manchmal kommt auch Sex darin vor. In einem Interview wird er gefragt: «Wie ist Ihre Erfahrung: Geht das gut: literarisch über Sex zu schreiben? Woher kommt dieses teilweise verklemmte Verhältnis?»

«Sex ist eine komplizierte Sache,
und Pornografie ist ohne Zweifel die allerschwierigste literarische Form.»

Es gibt wunderbare Pornografie und ganz grässliche, überlegt Franz, aber es ist nicht gesellschaftsfähig, sich lesend erregen zu lassen. Jedenfalls redet man dar­über nicht, man tauscht sich nicht aus, man empfiehlt nicht, was das Blut besonders in Wallung zu versetzen vermag, weil Sex … Sex ist eine komplizierte Sache, und Pornografie ist ohne Zweifel die allerschwierigste literarische Form. Sie verhöhnt Prüderie und politische Korrektheit gleichermassen, sie pfeift auf moralische Unbescholtenheit, und sie verwirrt den ethischen Kompass, an den sich die meisten meistens halten wollen. Sex ist privat. Die Fantasie mag frei sein und mit ihr das Geschriebene. Aber offen konsumieren? Sex ist mit Scham besetzt und deshalb tabu.

Lesend ist man allein. Schreibend ist man allein. Wenn man allein ist, hat man viel Zeit zum Denken. Wenn man viel denkt, denkt man oft an Sex. Franz weiss, wie verzwickt es ist, Sex so in Sprache zu fassen, dass eine Wanderung zu den Gipfeln der Erregung nicht peinlich banal oder abstossend ekelhaft wirkt. Das Tabu zu brechen ist für alle Autoren heikel – ist es bei Autorinnen anders? –, die Angst, schubladisiert und geächtet zu werden, ist berechtigt. Trotzdem reizt das Spiel mit dem Tabu und findet sich als pornografische Passage in zahllosen Werken, die nicht der Pornografie zugerechnet werden, obwohl die Einsamkeit des Schriftstellers in der deutschsprachigen Literatur dann doch eher zum Problembehafteten findet, zu dem Tragischen Zuneigenden und zum Leiden. Vergnügt und sinnlich scheint denen suspekt, die Literatur definieren. Schnell verschwindet Lustmachendes in den Schubladen Kitsch und Trash oder eben Pornografie, damit man es auf einen möglichen Wert hin gar nicht erst untersuchen muss.

Dennoch mag Franz, wenn er seinen Buchstaben eine sexuelle Richtung gibt, den leichten Ton. Weil er schlechten Sex nicht kennt? Seine Erfahrungen wollen wir als überaus positiv beschreiben. Wenn es um Sex geht, hat Franz ein Leben lang Glück. Wenn alle Gefühle verrücktspielen und es wunderschön und schmerzlich zugleich ist … Franz kann es nicht immer gut beschreiben, aber ihm ist, als würde er abheben, er spürt dann nichts mehr als dieses Zittern und Beben, diese Lust, die sich in ihm ausbreitet, aus seiner Mitte heraus immer weiter und weiter und weiter.

Im gleichen Interview wird Franz gefragt: «Was reizt Sie daran, solche Texte zu schreiben?» Weil es mir lustig ist, denkt Franz, weil es Spass macht, die Buchstaben in eine gewisse Richtung zu zwingen, und weil es mir ein diebisches Vergnügen bereitet, zu sehen, wie die Buchstaben, wenn sie in der Art, wie ich es will, zusammenrücken und merken, was sie bedeuten, wie sie erschauern, erröten oder kichern.

Franz pflegt die Buchstaben zu beruhigen. Es ist schön, lesend und schreibend allein zu sein. Es wäre schade, meint er, wenn Sprache einen der wesentlichen Aspekte des Menschseins nicht kunstvoll zu bewältigen vermöchte. Vielleicht gibt es vom Kunstvollen nicht allzu viel. Vielleicht, weil es zu selten versucht wird – die Macht des Tabus. Für Franz ist Sex die Königsdisziplin der Literatur.

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