Moral ist, wenn’s keiner sieht
Über das Selbstverständnis vieler Bergsteiger, die in der Bergwelt das Reine und Hehre erblicken.
Es gibt Bücher, auf die hat man lange gewartet. Doch zunächst in den Himalaja. Ich lag mit einem österreichischen Höhenbergsteiger im Lager III. Draussen zerrte der Wind an unserem Zelt, drinnen kämpfte ein Gaskocher mit einer Handvoll Schnee. Worüber wir uns in diesen Stunden unterhielten, ich weiss es nicht mehr, aber irgendwann fiel der Satz: «… in den Bergen ist alles so klar, … du warst auf dem Gipfel, oder eben nicht.» Ich hörte viel Sehnsucht in diesen Worten und konnte doch nicht widerstehen: «Was ist mit dem, der mit Sauerstoff oben war? Sein Gipfel lag gefühlte 1000 Höhenmeter tiefer. Nur so als Beispiel … und wie heldenhaft war einer, der auf den Berg gestiegen ist, aber auch über einen verletzten Kameraden?» Ich spürte, wie sich die Stimmung weit unter die Aussentemperatur abkühlte, und wechselte das Thema. Ich hatte an ein Tabu gerührt. An das Selbstverständnis vieler Bergsteiger, die in der Bergwelt das Reine und Hehre erblicken.
Warum das so sein soll, hat sich mir nie erschlossen. Die Berge bestehen aus unserer Vorstellung von ihnen. Manchen sind sie Charakterschule, aber nur denen, die ihre Lektionen annehmen. Ein Lump bleibt auch in der Eigernordwand einer. Grosser Ruhm wartet auf den Mutigen, aber auch die grosse Versuchung, ihn mit unlauteren Methoden zu erreichen. Wem die Berge also für die Wahrheit stehen, der fühlt ihren Frevel umso schmerzlicher.
Genau in diese Wunde fährt das neue Buch von Mario Casella. Der Tessiner Alpinist, Journalist und Dokumentarfilmer führt seine Leser zu den grossen Sündenfällen des Alpinismus zurück, zu den Betrügereien, Verleumdungen, Intrigen und Streits, die sich über Jahrhunderte hinziehen können. Das allein ist spannende Lektüre, zumal er diese Klassiker der Niedertracht kenntnisreich aufrollt und dabei über ein Ensemble der Superlative verfügt: Messner, Steck, Stangl, Krakauer, Bonatti, Everest, Montblanc. Wahrheitssuche ist auch Grosswildjagd. Doch wie jedes bedeutende Buch über die Berge strahlt «Die Last der Schatten» weit über die Abenteuerstory hinaus. Casella versucht erst gar nicht, die klärenden Antworten zu finden. Der Wahrheit kommt er nicht mit dem schulmeisterlichen Imperativ von richtig und falsch. Ihn interessieren die Motive der Lüge, ihre Folgen, die Biografien, die entzweibrechen, der mediale Druck und seine Rekordgier, die Zerstörungskraft der öffentlichen Meinung, die seltsame Doppelmoral beim Doping, Bergsteiger-karrieren, die nur noch wegen des einen Fehltritts erinnert werden, aber auch das Illegal/Scheissegal und die Lüge als Rettung aus einem Teufelskreis, der nichts mit dem eigenen Ego zu tun hat. In unserer Zeit der eilfertigen Empörung tut es gut, sich wieder einmal tiefer mit dem Wesen von Wahrheit und Lüge auseinanderzusetzen. Vor allem, wenn diese Meditation so packend erzählt ist.
Einer der Grossen der Schweizer Bergliteratur hat mir einmal gesagt, wie sehr er dieses Etikett hasse. Geschichten aus den Bergen seien Literatur, sofern sie es denn sind. Sofern sie uns vom Menschen erzählen und seinem Ringen mit sich selbst. «Moby Dick» nennt auch niemand Meeresliteratur. Und genauso wenig, wie es bei Melville um einen Wal geht, hat Casella ein Buch über Alpinismus vorgelegt. Er nimmt uns mit in die Todeszone der Wahrheit, folgt der Moral über abschüssiges Terrain und sucht menschliche Grate auf, die kaum jemand aufrecht begeht – in den Bergen, dieser erbarmungslosen Versuchsanordnung menschlichen Tuns.
Buch: Mario Casella: «Die Last der Schatten». Zürich: AS-Verlag, 2018.