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Armin Senser: «Liebesleben»

Armin Senser:
«Liebesleben»

 

«Mit Philosophen», spöttelte Mark Twain einst, «muss man sprechen, wenn sie Zahnschmerzen haben.» Der Sprecher im Gedicht «Die menschliche Komödie» ist so ein Philosoph. Er leidet zwar nicht an Zahnschmerzen, ist aber «angeheitert und etwas panisch» – und vergrippt. Das gibt er jedenfalls in seinem ausufernden Gespräch mit niemand geringerem als Dante zu Protokoll. Zwischen Hatschi und Gesundheit sinnieren die beiden über Liebe, Leben, Altern und Tod, die Vergeblichkeit der Kunst und die Abwesenheit Gottes, das reale Leben und die Träume. Ja, der Dichter Armin Senser liebt den Ausgriff ins Grosse. Schon immer bewohnten Geistesheroen von Auden bis Shakespeare sein poetisches Universum. Im neuen Gedichtband «Liebesleben» stehen aber vorwiegend Themen im Vordergrund, grosse Themen.

39 nach ihren Titeln alphabetisch geordnete sowie eine kleinere Anzahl titelloser Gedichte beschäftigen sich mit «Atomkraft», «Das Kapital», «Deutschland», «Europa», «Exit», «Korruption», «Migranten», «Sterbehilfe» oder «Verschwörungstheorie». Anlässlich dieser Aneinanderreihung so aktueller wie existenzieller Ausrufezeichen dürfte man bei anderen Autoren umgehend mittlere Unbescheidenheit dekouvrieren. Anders bei Armin Senser. Gegenwarts- und Zeitbewusstsein treffen bei ihm auf ein Sprachvermögen, das Themen nicht abhandelt, sondern in Spiegel der Reflexion verwandelt. Das kann voller Lakonie geschehen wie im Gedicht «Religion»: «Fakt ist: es gibt Religion. / Und es verzweifelt der Mensch schon / solang er lebt.» Oder messerscharf wie in «Biologie», wo dem Agassizhorn in den Berner Alpen die Rassentheorien seines Namensgebers auf den Firn geätzt werden. Oder schlicht bewegend wie im Titelgedicht «Liebesleben»: in fünf Abteilungen folgt es den Verlusten von Ich und Gegenüber durch die Gebrechen, «die ’s Alter nicht unbedingt schonungsloser, / aber intimer machen». Der Gedanke an Michael Hanekes «Liebe» liegt nicht fern.

Theorie sei das Leben der Literatur, zitiert Senser in seinem kürzlich erschienenen Essayband «Priester und Ironiker» den Amerikaner Wallace Stevens. Dass Literatur nicht Leben ist, sondern Theorie und dass es ohne Theorie keine Literatur gibt, die das Leben beschreiben könnte – dieser Topos grundiert Sensers diskursive Rhapsodien seit seinen Anfängen. Mit den Namen und Zitaten, die er den Gedichten voranstellt, spannt er zusätzliche mächtige Leinwände vor das Textgeschehen, ihre Leuchtfarbe erhöht den Kontrast zwischen philosophischem Anspruch und poetischer Einlösung – zugunsten der Poesie. Im Gedicht mit eben diesem Titel zitiert er beispielsweise Novalis – «… so ist gleichsam Poesie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung» –, um konterkarierend zu einer Klage über die «lausige», «blöde», «lächerliche», «dumme» Zeit anzuheben: «Eine dumme Zeit. Rat ist billiger denn je. / Was noch schlechter für dich ist? Vielleicht Kaffee, / Tee. Oder nur der Mist, der im Was-soll-das-Alles / steckt? Bitte. Was ist das denn für eine Frage.»

Armin Sensers Variationen der «Menschlichen Komödie» vereinen Hochsprache und Schnoddrigkeit. Sein schniefender Dante tritt in wechselnden Gewändern und «Fiktionsgraden» auf. Am Ende findet er sich am Atlantik wieder. Dort fühlt er sich «fast so unschuldig wie Billy Budd». Letzterer, ein engelsgleicher Analphabet, wird in Hermann Melvilles gleichnamiger Erzählung wegen Totschlags verurteilt – und bleibt doch ein Symbol einer besseren Welt.

Armin Senser: Liebesleben. München: Hanser, 2015.

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