Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn, Peter von Matt (Hrsg.): «Carl Spitteler – Dichter, Denker, Redner.»
Allzeit Trotz im Kopf!
Carl Spitteler, 1845 in Liestal bei Basel geboren, Schüler des berühmten Jacob Burckhardt und als Dichter, Essayist und Kritiker zu Lebzeiten im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt, ist heute so gut wie vergessen. Kaum jemand liest in den Werken des Literaturnobelpreisträgers von 1919. Warum?
«Dichter, Denker, Redner» lautet der Untertitel eines schön aufgemachten Lesebuchs, dessen Cover das Spitteler-Porträt von Ferdinand Hodler ziert. «Die mythische Chiffre seines Lebens wie seines Schaffens ist der trotzige Einzelne, der sich seine Bahn bricht durch die Masse der Gleichgeschalteten, allein mit einem unbezähmbaren Willen», schreibt Peter von Matt in seinem Vorwort. Modern ist das eher nicht, und vom «demokratischen Empfinden der Schweiz» ist es weit entfernt. Mit seiner Ende 1914 gehaltenen Rede «Unser Schweizer Standpunkt» – vielleicht der einzige Spitteler-Text, den man noch halbwegs kennt – habe er «einheimischen Ruhm» erworben, seine «solide Präsenz in der deutschen Literatur» jedoch verloren. An seiner Verweigerung der Parteinahme für das hochgerüstete, kriegslüsterne und protzige Kaiserreich im Norden und seinem engagierten Plädoyer für den «richtigen neutralen, den Schweizer Standpunkt» kann das schon lange nicht mehr liegen. Woran dann? Vor allem wohl daran, dass nicht nur sein Roman «Imago», erstmals 1906 in Jena erschienen und hier in ganzer, ermüdender Länge abgedruckt, hoffnungslos veraltet ist – seine Dichtungen, die im zweiten Teil des Buchs in Auszügen vorgestellt werden, sind es ebenfalls, auch wenn Peter von Matt den «Olympischen Frühling» (1900–1905) als «das spektakulärste Ereignis deutschsprachiger Fantasy-Literatur» zu retten sucht. Natürlich ist «Xaver Z’Gilgen» (1888) eine hervorragend rhythmisierte gute Erzählung, natürlich bleibt eine sprachgewaltige Reportage wie «Der Gotthard» (1896) spannend zu lesen, und selbstverständlich finden sich bedenkenswerte Reden wie die über «Gottfried Keller» (1919) oder geistreiche Essays wie der über «Die Persönlichkeit des Dichters» (1892). Und die politischen Eiferer von rechts sollten seinen Aufsatz «Vom ‹Volk›» (1886) lesen und dann damit aufhören, «jede Zusammenrottung für Volk anzusehen und in jedem Gebrüll die Volksstimme zu hören». Aber wer liest Essays und Reden von vorgestern? Wenige Experten wie der Zürcher Literaturwissenschafter Philipp Theisohn, der in seinem luziden Nachwort plausibel herausarbeitet, weshalb Carl Spittelers Werk hinter der literarischen Moderne ein gewaltiges Stück zurückbleibt. Selbstverständlich plädiert Theisohn zugleich dafür, Spitteler «wiederzuentdecken», um ihn «aus der Vergessenheit zu befreien». Ob das gelingen kann, vielleicht mit Hilfe der vielen für 2019 angekündigten Aktivitäten und Publikationen? Man darf gespannt sein.
Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn, Peter von Matt (Hrsg.): Carl Spitteler – Dichter, Denker, Redner. Zürich: Nagel & Kimche, 2019.