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Urs Mannhart, fotografiert von Beat Schweizer.

Von Hareskov nach Ballerup I


In einem flüchtigen Moment, umflort von einer Langeweile, die genährt wird allein von einem Am-Fenster-Sitzen in einem dänischen, an einer menschenleeren Haltestelle wartenden Vorortszug, streift mich der Eindruck, als würde der Regen, der alles – den Bahnsteig, die kleine Mauer mit dem Wegweiser, den Fahrradunterstand und hinter ihm das Backsteinhaus – mit einer feinen Schraffur überzieht, mit einem Mal und entgegen allen physikalischen Gesetzen seine Fallgeschwindigkeit verringern. Weil dies kaum sein kann, frage ich mich, ob mein voriges Nachsinnen über meine 70jährige Mutter und ihre, wie ich glaube, langsamer werdende Auffassungsgabe dazu führt, dass sich auch meine Wahrnehmung verlangsamt. Oder würde ich mir dann eher einbilden, der Regen falle ungewöhnlich schnell?

Die Zeit schliesst auf zu der im Fahrplan notierten Minute, eine leise zischende Hy­draulik schliesst die letzten Türen, und als die Bahn ihre Fahrt wieder aufnimmt, erkenne ich, dass sich die Regentropfen gerade jetzt und unvollständig, aber doch sichtbar in Schneeflocken verwandeln, dass sie, wenige Meter über dem Boden und Fallschirmspringern gleich, ihren Luftwiderstand vergrössern, um deutlich sanfter landen zu können.

Als wir zehn Minuten später in Hareskov aussteigen, eine halbe Stunde nordöstlich von Kopenhagen, ist der erste zärtliche Schneefall dieser Saison bereits Geschichte. Geblieben ist eine die Hosenbeine hochkletternde Kälte, eine verglichen mit den in diesem ewig anhaltenden Spätsommer herrschenden Zuständen merklich vermin­derte Schwingung in den Atomen.

Während wir durch einen ausgedehnten, von schnurgeraden Wegen filigran zerschnit­tenen Buchenwald spazieren, schildert mir meine Gefährtin, wie beglückend es sich anfühle, einen himmeltraurigen Fado zu singen, wie wohltuend es sei, die Klage über das Schicksal einem dieser portugiesischen Lieder anzuvertrauen und dadurch vom Bedürfnis befreit zu werden, stets selbst zu jammern.

In einem schilfumstandenen Teich lässt sich, auf stäbchendünnen Beinen in der idyllischen Kulisse stehend, ein steingrauer Reiher betröpfeln, und ich frage mich, ob nicht der Klage zu Ehren ein Monument errichtet werden müsste, da der Mensch ohne Missstand, Beklemmung, Wut, Sehnsucht und Unbehagen kaum Antrieb hätte, Kunst hervorzubringen.

Am Wegrand finde ich einen zartblättrigen, nun frisch gewaschenen Löwenzahn. Die hohe Schmackhaftigkeit seiner Blätter ist womöglich einem Stoff namens Inulin geschuldet, von dem herbstlicher Löwenzahn in der Regel besonders viel enthält. Inulin kann vom Menschen nicht verdaut werden, aber es verstärkt den Geschmack, wird oft auch in der Herstellung von Joghurt verwendet und regt die Aktivität zahlreicher erwünschter Darmbakterien an.

Während das Dörfchen Ballerup noch etliche stolze Buchen entfernt liegt und meine Gefährtin nun doch den Schirm aus dem Rucksack holt, bin ich überzeugt, dass der Mensch täglich viele Erlebnisse, Informationen und Gefühle aufnimmt, die er nicht verdauen kann. Einige davon bringen den Fado hervor. Und ich male mir aus, ich würde Portugiesisch lernen, um ein Lied zu finden, das von der Traurigkeit erzählt, zusehen zu müssen, wie die eigenen Eltern, auf immer dünner werdenden Beinen stehend, allmählich den Anschluss an das allgemeine Tempo verlieren.

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