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«Ich habe seitenweise Passagen abgeschrieben»

Ein Gespräch über Todesgegenwart, morphiuminduzierte Ästhetik, einen Keller, der Gott anruft, wenn ihm die Tränen kommen – und einen privaten Metastasenwettbewerb.

«Ich habe seitenweise Passagen abgeschrieben»
Adolf Muschg und Thomas Hürlimann, fotografiert von Suzanne Schwiertz.

Mit Thomas Hürlimann und Adolf Muschg wurden 2019 gleich zwei Autoren mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Wer die beiden Granden beim Diskutieren und Debattieren über den Autor erlebt, legt jeden Zweifel ab: Es hätte in diesem Jubiläumsjahr keine bessere Wahl geben können. Muschg wie Hürlimann sind nicht nur Keller-Kenner, sie sind Fans und haben aus Gottfried Kellers Werk immer wieder direkte und indirekte Inspira­tion bezogen. Und: Die «Antipoden» harmonieren und kennen sich überraschend gut.

Herr Muschg, Herr Hürlimann, «mussten» Sie als Schüler Keller lesen?

Thomas Hürlimann (TH): Bei meinem Deutschlehrer an der Stiftsschule Einsiedeln war Keller kein Thema. So bin ich erst als Student in Westberlin auf ihn gestossen – in einer ost­deutschen Buchhandlung. Da stand ein ganzes Keller-Gestell. Im «Grünen Heinrich» stiess ich dann auf viele biografische Bezüge – er ist nach Berlin gegangen, ich auch – , und so war das ein leichter Einstieg.

Sie waren begeistert.

TH: Ich habe seitenweise Passagen abgeschrieben, um zu sehen, «wie er’s macht». Ein paar dieser abgeschriebenen Seiten lagen auf meinem Nachttisch, als ich einmal einen Streit mit meiner damaligen Freundin hatte und mich in die Küche rettete, um Kaffee zu kochen. Als ich zurückkam, hatte sie die Keller-Blätter in der Hand und sagte: «Du bist zwar ein Riesenarschloch – aber schreiben kannst du.» Ich gebe zu, ich habe mich nicht geoutet (Gelächter).

Adolf Muschg (AM): Bei mir war es das genaue Gegenteil. Unser Deutschlehrer war eine Art Keller-Spezialist und hat uns diesen Keller enorm vorgeformt – was nicht dazu beigetragen hat, dass es mir leichter geworden wäre, Keller zu lesen. Er wurde Teil eines Pensums. Auch eines patriotischen, vaterländischen, aufklärerischen Pensums.

Das «Fähnlein der sieben Aufrechten»…

AM: Ja, natürlich. Diese, ich sag’s mal pointiert, Unglücksnovelle wurde zum Mass aller Dinge für Keller. Wenn man «Martin Salander» kennt oder die Gedichte, weiss man, dass das auch eine Tour de Force gewesen ist. Keller hat selber gesagt, man müsse dem Volk manchmal wie schwangeren Frauen schöne Bilder vorhalten, damit sie auch glückliche Kinder gebären. Eigentlich war das also ein Tendenzstück. Wobei, ich lese selbst darin heute ganz andere Dinge, auf die uns unser Lehrer nicht aufmerksam gemacht hat. Etwa, wenn der Unternehmer Frymann, ein Liberaler im Escher-Stil, das kühne Wort sagt, wenn es mit der Schweiz einmal zu Ende sei, dann wolle er wie ein Mann zurückblicken, der das Seine dazu getan hat, dass es sie gab. Das ist so eine Art Apokalypse der Schweiz – ungefähr das letzte, was man in meiner Jugend über die Schweiz denken durfte. Bei Keller ist diese Todesgegenwart immer da, sie macht das Gefühl der Gegenwart erst wirklich glänzend.

TH: In den Notizen zu «Martin Salander» sollte Zürich – im Buch heisst es Münsterburg – zum Schluss abbrennen. Einfach verschwinden, sich selbst vernichten. Er hat es gestrichen, aber die Notiz ist da.

Wird Keller zu oft – und eben auch von Lehrern – zu oberflächlich gelesen?

TH: Das Gefährliche ist, dass man ihn in der Schule als lustigen Kauz verkauft. Und dann sind die Sachen eben überhaupt nicht lustig. Sie sind tragisch grundiert, und vor dieser Folie inszeniert Keller oft eine fast verzweifelte Groteske, wie man sie auch von Kafka kennt. Keller ist ein Dichter für Fortgeschrittene. Nimmt man nur das Komische, ist es nicht komisch genug, und es ist auch nicht so spannend, dass es einen durch die ganze Novelle trägt. Keller ist schwieriger, als die Schule lange gemeint hat.

Walter Benjamin nannte Keller einen «sperrigen» Schriftsteller – was mich auch aus meiner Schulerfahrung zunächst überrascht hat.

AM: Man hat ihn uns –  oder wenigstens mir – als Teil der Zürcher Gemütlichkeit angedreht. Oder als einen, der, wenn er auch klein ist und keine Frau gefunden hat, «trotzdem lacht». (Hürlimann lacht laut.) Das ist ungefähr das Falscheste, was man über Keller sagen kann. Seine kurze Zeit der Identifikation mit dem Staat im Staatsschreiberamt war eine enorme persönliche Errungenschaft – und eine, die er am Schluss auch ganz gern wieder losgeworden ist. Er hat die Verbindung mit der offiziellen Schweiz nicht gesucht – und als er einmal beinahe ETH-Professor geworden wäre, hat er das Angebot abgelehnt, mit dem doppelsinnigen Einwand: «Das kommt mir zu früh.» Gleichzeitig verachtete Keller auch die «Volksmänner», die für die direkte Demokratie eintraten. Trotz seines Geselligkeits- und Trink­mythos ist er in Zürich ein einsamer Mann geblieben.

Identifizierte sich Keller nicht vor allem mit dem entstehenden Bundesstaat um 1848?

AM: Der Staat ist damals enorm im Fluss gewesen. Die sogenannten Liberalen, die im vollsten Sinne des Wortes Staat gemacht haben im 19. Jahrhundert, hiessen schon sehr bald die Altliberalen und waren für die neuen Leute die Konservativen. Im heutigen Spektrum hätte Keller weit links angefangen, als Freischärler mit der Waffe in der Hand gegen die konservative Innerschweiz. Dann kam der Bundesstaat, mit dem sich alle in seiner Umgebung vorübergehend identifiziert haben, und dann wiederum hat sich vollzogen, was wir heute auch erleben: dass Linke von gestern konservativ werden, etwa in der Ökologie. Jedenfalls: Als Keller aus Berlin zurückkam, war er als politischer Journalist eindeutig links. Die «Neue Zürcher Zeitung» war ihm zu rechts, die «Bürkli-Zeitung» galt sogar als reaktionär, sozusagen die «Weltwoche» von damals, und so hat er für den Berner «Bund» geschrieben, der als linker galt. Die politischen Verschiebungen in der Schweiz hat er dann fast wie eine Kontinentalverschiebung erlebt.

Die Welt hat sich ohne ihn weitergedreht.

AM: Ja – und die Schweiz ganz besonders – nicht nur zu ihrem Vorteil.

Wenn es die gleichen Leute waren, die sich entlang der gesellschaftlichen Verschiebungen so verändert haben, dann gilt das auch für Keller selbst. Vom frühen Radikalen zum pessimistischen, manche sagen auch: abgelöschten Konservativen der späten Jahre. Mit dem Ergebnis, dass Keller heute so eine Art Wühltisch geworden ist, wo jeder sich etwas politisch Opportunes herausgreifen kann.

AM: Leider, ja.

Welcher ist Ihr Keller? Ist es überhaupt ein politischer Keller?

TH: Mein Keller ist ein doppelter, und zwar durch das ganze Leben. Ich halte ihn für einen linken Sozialisten und gleichzeitig für einen Konservativen. Am deutlichsten wird das im «Grünen Heinrich». Hier gibt es den Jungen, der vom Estrich aus den Hahn auf dem Kirchturm erblickt und darin Gott erkennt – das hat der fromme, romantische Keller geschrieben. Die Szenen in der Küche wiederum sind bester Küchen-Realismus, geschrieben vom selben Autor. Im Osten wurde ausschliesslich der Küchen-Keller aufs Podest gehoben, als Schweizer Gorki gewissermassen. Keller ist spannend, weil er beides war: Realist und Romantiker. Deshalb sollte man sich immer auf beide beziehen. Sonst verkauft man den halben Keller für den ganzen.

Ein Januskopf?

TH: Ja, und wie er immer Romantiker und Realist ist, ist er immer auch Konservativer und Revolutionär. Keller schrieb: «Baut Escher ein Denkmal», aber er war auch derjenige, der Escher im «Fähnlein der sieben Aufrechten» zum Abschuss freigegeben hat. Man muss immer beide Keller sehen. Die Differenz zwischen den beiden macht die Spannung aus. Und diese Spannung, die er ein Leben lang aushält, macht ihn zum grossen Autor.

AM: Was du sagst, gilt auch für sein Verhältnis zur Religion. Keller war sein Leben lang bekennender Atheist. Aber wenn ihm die Tränen kommen, fällt komischerweise auch der Name Gott, sogar in Zusammenhang mit dem Heimatland: «O mein Heimatland, o mein Vaterland» – da bittet er Gott, dieses Land zu erhalten. Aber man muss den Ort, wo dieses Gedicht entstanden ist, sehen. Das ist Berlin. Das ist ein Gesang aus der Fremde, aus dem Zentrum des Heimwehs. Das war ja mal die Schweizer Krankheit. Klinisch als solche beschrieben im 17. Jahrhundert – durchs Alphorn ausgelöst. «Gott im hehren Vaterland», wie es im Schweizerpsalm heisst, «deine fromme Seele ahnt» und so weiter, das lag ihm nicht so fern, wie er an anderer Stelle gern gesagt und vertreten hätte.

Auch da also diese Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen.

AM: Ich möchte fast Methode sehen darin bei ihm. Keller war ein Widerspruchsgeist, seine Reaktion auf das Affirmative in welcher Form auch immer war das Aber: «Ja, aber…» – das Ja gehört schon auch dazu. Er war ein Liberaler, aber… Er war ein Konservativer, aber… Er war ein Freischärler, aber… Dieser verinnerlichte Vorbehalt ist Teil des Keller’schen Genies. Dieses Dilemma sorgt dafür, dass seine Figuren – nicht alle, aber die grossen – plastisch werden.

TH: Er hat den Verlust Gottes nicht als Befreiung empfunden. Er verpflichtete sich zum radikalen Glauben ans Diesseits und musste feststellen, dass ihn sein Gewissen ohne Gott noch stärker drückt als vorher.

AM: Bei den Kirchenleuten, die aber diesem Diesseits dann entgegenkamen, wie der freisinnige Pfarrer in «Das verlorene Lachen», verliert er das Lachen aber am gründlichsten: Dieser Lump gibt sogar seinen eigenen Standard preis, um sich der liberalen Gesellschaft anzudienen! Das erinnert mich an meine eigene religiöse Erziehung, wo für meinen pietistischen Vater der liberale Zolliker Pfarrer Brenk noch mehr des Teufels gewesen ist als ein Katholik. Die «Halben», wo immer sie standen, waren Keller herzlich unsympathisch – was einem aber wiederum nur passieren kann, wenn man selber in manch entscheidenden Punkten ein Halber ist.

TH: Keller war halb Romantiker, halb Realist, aber seltsamerweise war er diese Hälften immer ganz. «Spiegel, das Kätzchen» zum Beispiel könnte von E.T.A. Hoffmann sein.

AM: Oder von Jean Paul.

TH: Keller ist überhaupt näher bei Jean Paul, als bei einem Autor, den man so weglesen kann.

AM: Leider liest ausser Peter Bichsel niemand mehr Jean Paul.

TH: Doch, ich habe ihn einen ganzen Sommer lang gelesen.

AM: Also: ausser Bichsel und Hürlimann.

TH: Ja, Hürlimann auch! Und zwar deswegen: Als ich, eher zufällig, etwas von Paul gelesen habe, empfand ich ihn als unglaublich schwierig. Und dann hört man, in der Weimarer Zeit sei das ein Bestsellerautor gewesen! Da begann er mich zu interessieren. Ich dachte, so erfahre ich wie weit unsere Lesehirne seit jenen Zeiten geschrumpft sind. Also las ich einen Sommer lang jeden Morgen eine halbe Stunde Jean Paul, und nach etwa vier Wochen konnte ich ihn flüssig lesen. Aber dann kam die Sucht. Auch bei Keller braucht es ein gewisses Training. Sogar da, wo er leicht scheint. Deshalb muss man ihn eher in Schutz nehmen vor den falschen Lesern.

Also doch lieber kein Keller in der Schule?

TH: Schwierige Frage. Jedenfalls ist mit diesem Autor auf die Schnelle nicht fertig zu werden. Haben Sie Keller in der Schule kennengelernt?

Ja, «Kleider machen Leute» und «Romeo und Julia auf dem Dorfe». Eine Novelle wie «Kleider machen Leute» kann ich doch durchaus zwischen Zürich und Basel weglesen und Freude daran empfinden. Das ist unterhaltend und zugänglich – ohne deswegen oberflächlich zu sein.

AM: Es ist die Mustergeschichte einer Begnadigung. Nur ist nicht von Gott die Rede. Es ist die Frau, die den Hochstapler aus dem Schnee gräbt, nachdem er ausreichend gebeutelt wurde für seine Hochstapelei.

TH: Es stimmt, diese Geschichte lässt, wie andere auch, auf der Oberfläche einen einfacheren Zugang zu. Auf einer zweiten Ebene wird es dann schon komplizierter, ziemlich kafkaesk. Da erinnern die Arrangements an Träume, an Albträume.

AM: Wir alle kennen die Erfahrung, dass man im Traum etwas so intensiv erlebt, dass auch einem Fantasielosen die Differenz zur Ausdrückbarkeit des Erlebnisses plötzlich aufgeht. Wenn er von diesem Traum erzählen muss, hat das kein Wort mehr mit dem zu tun, was er erlebt hat. Aber bei Keller geht, da bin ich mit dir einig, verblüffend viel aus dieser Traumsphäre in die Prosa ein. Der schwarze Geiger aus «Romeo und Julia» beispielsweise, das ist eine Figur, die nicht einfach deutbar ist, weil die ganze Ambivalenz des Traums mitenthalten ist.

TH: Ich habe «Romeo und Julia» kürzlich zum dritten Mal in meinem Leben gelesen. Erst jetzt ist mir aufgefallen, dass Romeo in der grossen Liebesszene Julias Zähne zählt. Plötzlich wird der Schädel zum Totenschädel – und Romeo zählt die Zähne nach! Das ist vollkommen irr. Man überliest es leicht, aber genau das sind die genialen Züge des Erzählers Keller.

Dann tippe ich mal, dass Ihnen auch die erste Fassung des «Grünen Heinrich» die nähere ist. 

AM: Bei mir ist das eindeutig so. Weil Keller sich da die Entgleisung nach allen Seiten leistet, die Jean-Paul-Komponente noch nicht wegredigiert hat wie beim zweiten Teil, wo er sich sozusagen sich selber gegenüber wie zu einem Klassiker zu verhalten anfängt.

TH: Richtig spannend wird’s, wenn man beide mehr oder weniger parallel liest. In der zweiten Fassung weiss Keller mehr über Menschen, aber die erste ist verspielter, verrückter.

Herr Hürlimann, ich habe auch in Ihrer «Heimkehr» Stellen gelesen, die einen solchen  Sog entwickeln, dass ich das Gefühl hatte, wir verliessen jetzt die Zone dessen, was man sich so am Schreibtisch ausdenkt. Führen Sie auch Traumbücher? 

TH: Nein. Es war eher ein Tagtraum, nach einer Operation, auf der Intensivstation, der mich auf diese Ästhetik gebracht hat. Ich stand noch unter Morphium. In der Anästhesie arbeiten sie ja heute nicht mehr mit chemischen Keulen; man wird auf einen kleinen Trip geschickt. Der hielt bei mir nach dem Erwachen an. Wenn ich dachte, das Bett hebt sich, hob es sich tatsächlich. Es war magisch. Was ich fantasierte, geschah. Als ich allmählich wieder in die Normalität zurückkehrte, nahm ich mir vor, diese Art des Erlebens für mein Schreiben zu
nutzen.

AM: Eine totale Unmittelbarkeitsfantasie.

TH: Genau das. Man stellt sich etwas vor und siehe da: es ist.

Herr Hürlimann, Herr Muschg: Man nimmt Sie in der Öffentlichkeit durchaus auch als Antipoden wahr – persönlich verstehen Sie sich offensichtlich blendend. Wie gut kennen sich die beiden Keller-Preisträger?

AM: Jaja, wir tragen da und dort ab und zu eine kleine Meinungsverschiedenheit aus. Aber wir kennen uns seit vielen Jahren und schätzen uns und die Arbeit des anderen sehr. Vor allem als wir beide in Berlin waren, Thomas am Schillertheater und ich an der Akademie der Künste, haben wir uns oft getroffen. Heute weniger – aber wenn die Gelegenheit kommt, wie jetzt, freuen wir uns sehr. Manchmal begegnen wir uns auch am Zürcher Unispital auf dem Korridor und überbieten uns mit Metastasengeschichten (Gelächter).

TH: Und dann gibt’s da noch den erwähnten Pfarrer Brenk, der nach Zollikon kam, als Adolf ganz klein war. Der wurde später mein Schwiegervater.

AM: Stimmt, wir sind sozusagen verwandt. Geschiedene Verwandte!

TH: Ich bin sogar einmal als Adolf Muschg beschimpft worden. Wenn ich diese Geschichte kurz erzählen darf…

Nur zu!

TH: Wir waren gemeinsam in New York, und ich hatte damals noch keine Bankkarte. Adolf, der sich in den USA bestens auskannte, schon. Er hat alles bezahlt – und wollte das Geld später nicht wiederhaben. Ich wollte damals in eine Theateraufführung, es war eine Art Publikumsbeschimpfung, das Stück der Saison, leider ausverkauft. Da ging Adolf für mich zur Kasse und sagte: «I’m a very famous European writer» und zahlte mit seiner Bankkarte. In die Vorstellung ging ich allein, und als die Beschimpfung in vollem Gange war, fragte einer der Schauspieler auf einmal: «Which of you bastards is Adolf Muschg? Get up here!» Ich brauchte einen Moment, bis ich merkte, dass ich Adolf Muschg war. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich musste als Muschg auf die Bühne und wurde von den schwarzen Schauspielern aufs übelste als arroganter, kolonialistischer, weisser Mann beschimpft.

AM: Sie sehen, man muss als Adolf Muschg einiges aushalten.

Was waren Sie für Heimkehrer, als Sie – wie einst Keller – aus dem Ausland in die Schweiz zurückkamen? 

TH: Ich war zweimal über zehn Jahre in Berlin und habe bei der zweiten Heimkehr noch deutlicher als zuvor gemerkt: Man kehrt nicht heim. Ich bin in Berlin ein Schweizer Patriot geworden – und kehrt der Patriot eines Tages zurück, fliegt er natürlich auf die Schnauze. Oft wurde ich in Berlin auf Blocher an­gesprochen – den ich dann immer gegen den deutschen Faschismusvorwurf verteidigt habe, vehement sogar. Zu Hause merkte ich dann, dass meine Vorstellung von unserer Demokratie eher den Heimatträumen als der Realität entsprungen war. Ich wohne jetzt wieder im Kanton Zug. Als ich da aufwuchs, war es ein katholisches, biedermeierliches Städtchen mit Geranienkästen am Bahnhof, jetzt ist es der drittgrösste Ölhandelsumschlagplatz der Welt, ein schweizerisches Abu Dhabi. Wer vom damaligen Zug weggegangen ist, kehrt nicht heim, wenn er ins heutige Zug zurückkehrt. Er betritt eine ihm völlig fremde Stadt. Keller erzählt genau das exemplarisch und grandios im «Grünen Heinrich», aber auch im «Salander»: wie man heimkehrt, ohne heimzukehren.

Und die Geschichte von Keller selbst erzählt uns, wie einer ein grosser Künstler wurde, gerade weil er zuerst als Künstler scheiterte.

AM: Ja, er ist als Maler eben kein Künstler geworden, und die wunderbare Pointe ist dann: Als er darüber schreibt, wie er kein Künstler geworden ist, wird er ein grosser Autor – sozusagen hinter seinem eigenen Rücken.

Herr Muschg, Herr Hürlimann, vielen Dank für dieses Gespräch. 

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