Beschaulich verstörend
Agglomeration. Tausendmal bin ich durchgefahren, in der Bahn, im Auto, im Bus, und dachte, wenn ich überhaupt etwas dachte: «Hier möchte ich nicht unbedingt wohnen.» Schlafstadt, Pendeln, Industriegebiet, Shopping-Malls, Bausünden, Trostlosigkeit? Mir fehlte ein Zentrum, eine Mitte, dafür sah ich viel Zusammengewürfeltes, scheinbar planlos Hingebautes: Tankstellen, Fachmärkte, Wohnblöcke, Autobahnzubringer, riesige Parkplätze, einen Kirchturm zwischen Möbeldiscountern, […]
Agglomeration. Tausendmal bin ich durchgefahren, in der Bahn, im Auto, im Bus, und dachte, wenn ich überhaupt etwas dachte: «Hier möchte ich nicht unbedingt wohnen.» Schlafstadt, Pendeln, Industriegebiet, Shopping-Malls, Bausünden, Trostlosigkeit? Mir fehlte ein Zentrum, eine Mitte, dafür sah ich viel Zusammengewürfeltes, scheinbar planlos Hingebautes: Tankstellen, Fachmärkte, Wohnblöcke, Autobahnzubringer, riesige Parkplätze, einen Kirchturm zwischen Möbeldiscountern, Autohändlern, einer Metzgerei, der alten Dorfkneipe. Drum herum: Einfamilienhäuser. Agglo? Ein zerfaserter, zubetonierter Gürtel um die grossen und mittelgrossen Städte!
Und dann das: laut Bundesamt für Statistik lebe ich mitten in der Agglomeration, dabei nur 50 Meter vom Waldrand entfernt. Zofingen – die Altstadt erreiche ich von der Haustür in drei Minuten – ist auf der entsprechenden Karte knallrot markiert, als «Agglomerationskerngemeinde (Hauptkern)». Ja, im Mittelland ist eigentlich alles Agglo. Und: seither mag ich sie irgendwie, die Agglo.
Vielleicht spielt dort aus diesem Grund auch mein neuer Roman. Allerdings in der Agglo Hamburgs, die ich stets mit dem Blick des Besuchers betrachtet habe. Wilhelmsburg. Auch hier: alte, neuere und frisch gebaute Wohnblöcke, Reihenhaussiedlungen, Einfamilienhäuser, Vorgärten, Hinterhöfe, teilweise verkommene Strassen, Kopfsteinpflaster, Imbissbuden, am Rand plötzlich Weite, Felder, am Horizont ein Wald. Prekariatsbehausungen, Mittelstandswohnraum, kaum Villen, dafür eine bunte Menschenmischung und Sprachenvielfalt. Diese Zusammensetzung erschien mir immer schon als grossartiger, weil auf den ersten Blick unspektakulärer Schauplatz für eine Geschichte.
Agglo. Das ist nicht Grossstadt und nicht Land, nicht Gartenzwergidylle und nicht Ghetto, es ist der Raum dazwischen, wo sich alles vermengt, wo es manchmal still ist und fast beschaulich und manchmal laut, vielleicht verstörend – wie in einem guten Roman.