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John Burnside: «In hellen Sommernächten»

John Burnside:
«In hellen Sommernächten»

 

Es gibt keine Nacht, kein Dunkel auf Kval Øya, einer einsamen Insel nahe am Polarkreis am Rande der Welt. Der Abend hängt sich direkt an den Saum des Morgens, überspringt die Finsternis – was bleibt, ist eine Art Zwischenzustand, ein verschwimmendes Schummern. Konturen verschwinden, Silhouetten verblassen. Der Naturzustand wird zum Seelendämmer, ähnlich dem Gefühl beim Aufwachen: nicht träumend, nicht wachend. Oder anders: «Ich hatte ein Gefühl, wie es einen manchmal beim Aufwachen überkommt, eine unbestimmte Furcht, die im Traum beginnt und sich dann, wenn die Nachtlogik schwindet, für kurze Zeit zu einem dunklen, lauernden Schatten verhärtet, ehe sie in nichts als Tageslicht und Märchenklischee zerfällt. Ein Phantomzustand, ein Fantasiegebilde, ein Kniff, mit dem der Verstand sich selbst täuscht, wenn man zu viele Geschichten gehört hat.» Was wir auf den ersten Seiten durch Liv erfahren – von ihr bekommen wir die Geschichte erzählt –, erscheint uns nach der Lektüre sinnbildlich für den ganzen Roman.

In der Abgeschiedenheit der nordischen Insel lebt das phantasiebegabte Mädchen mit seiner Mutter, einer berühmten Landschafts- und Porträtmalerin. In ihrer schieren Einsamkeit blättert Liv tagein, tagaus in Bildbänden und erkundet die Insel. Sie beobachtet, hält fest, überhöht phantastisch und erzählt. Eines Tages erfährt Liv von ihrem alten Freund Kyrre, der Geschichten über die mythische Huldra verbreitet und auf der Insel eine Hytte an Auswärtige vermietet, dass zwei Brüder aus ihrer Klasse auf mysteriöse Weise ertrunken seien. Genährt von vielen, allzu vielen Huldra-Geschichten, beginnt ihre Phantasie ein Eigenleben zu entwickeln. Es dauert nicht lange, bis sie im schönen Nachbarsmädchen Maia die Huldra sieht und felsenfest an deren Übersinn glaubt.

Die Huldra: der Legende nach ein chimärisches Wesen, halb schöne, verführerische Frau, halb ruheloser Geist. Blickt man hinter ihre verzückende Fassade, zeigt sich die Täuschung: Eine narbenähnliche Furche durch ihren Rücken soll auf den Riss durch die Wahrnehmung zeigen, auf die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit – eine Mythenpersönlichkeit also, ganz so, wie es die Legende will. Die Huldra – in den hellen Sommernächten Allegorie für das Verborgene / für Angst – übernimmt als Mysterium tremendum die Rolle der Verführung / der Angst vor dem Unbewussten. Sind Liv und die Huldra eins? Wird das feerische Mädchen Maia die in die Jetztzeit gerückte Huldra sein – sind Liv und Maia eine einzige Gestalt?

Der schottische Romancier John Burnside entwirft mit «In hellen Sommernächten» eine diffuse Gegenwelt zu dem, was klar vor unseren Augen liegt. Der höchst versierte Arrangeur des Kammerspiels, in dem Angst und Vernebelung, Einsamkeit und Erinnerung Hauptrollen spielen, lässt uns keine Wahl: Wir finden uns während der Lektüre in einer anderen Schule des Sehens wieder, lassen uns verführen, driften gerne ab. In diesem langsamen, auf den Kopf gestellten Erkenntnisroman geht der Dämmerzustand der Polargegend, wie auch der gaukelbildhafte Zustand seiner Figuren, auf den Leser über. Ein aussergewöhnliches Buch, das viele andere Geschichten, in denen wir in (Ab)gründe des menschlichen Bewusstseins schauen, mit Leichtigkeit hinter sich lässt. Es ist, im schönsten Sinn, auch ein stilles Buch – denn Burnside gelingt es hier, das Opake, den Seelenschummer, durch Sprache sichtbar zu machen.

John Burnside: In hellen Sommernächten. München: Knaus, 2012.

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