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«Chroniques de l’Occident nomade»

von Aude Seigne, übersetzt von Annika Wisniewski

Wie hat es genau angefangen? Warum auf einmal diese Bewegung, dieses Anderswo, diese Männer? Schreibe ich über die Reisen, schreibe ich über die Liebe? Schwer zu sagen. Am Anfang der Bewegung sehe ich eine Fähre, die an einem Julimorgen Griechenland erreicht. Ich bin fünfzehn. Ich lege mich eines Abends in Brindisi aufs Schiffsdeck. Ich bin fünfzehn. Ich sehe, wie meine Reisegefährten eine dünne Campingmatte ausrollen, auf dem dreckigen Deck. Nicht ein Quadratmeter ist frei, man muss über diese Menscheninseln steigen, als suchte man sich einen Weg durch ein unübersichtliches Bachbett. Ich höre bereits die kleine Spiessbürgerin in mir aufschreien: Aber hier schlafen wir doch wohl nicht? Ich werde früher wach als sonst, weil ich vor Hitze ersticke. Kaum 7 Uhr, aber es ist, als näherte sich die Sonne bereits von allen Horizonten gleichzeitig. Eine Art irrsinnige Erstickung, unglaublich brutal und ein bisschen angenehm. Man muss sie sich wie warme Watte vorstellen, die drückt und dröhnt, wie Kopfschmerzen an einem Sommernachmittag, die man im Schatten lindern kann. Wie hat das alles angefangen? Vielleicht in eben diesem Moment. Ich richte mich auf, habe verquollene Augen. Ohne dass ich von meinem improvisierten Schlafparadies aufstehen muss, sehe ich vor mir das Meer wie eine blaue Wüste glitzern. Der Anblick ist zweigeteilt. Unten zieht die Eiswüste gleissend vorbei, während oben am Himmel unendlich blasses Blau steht. Ich bin fünfzehn, bin aber noch nie vor einem solchen Panorama erwacht, anders als es wohl schon Tausende Menschengenerationen vor mir täglich getan haben. Etwas bricht auf in mir an diesem Tag, eine Wand wird ohne Vorwarnung erschüttert, die Möglichkeit des Absturzes offenbart sich im selben Moment wie die des absoluten Glücks. Ich bin fünfzehn, ich fahre nach Griechenland, mit zwanzig anderen Jugendlichen und dreien, die selbst fast noch welche sind. Ich bin in Griechenland und tue verrückte Dinge. In Santorin laufen wir auf einer Strasse voller Reisebusse zwei Stunden ohne Wasser in der prallen Sonne.

In einem kleinen Restaurant in Antiparos verschlingt jeder ein zweitellergrosses Rindersteak mit blossen Händen. Für den 1. August kaufen wir uns lederne Sandalen beim Hirten und ganz kurze Kleider, die nichts von unseren gebräunten Mädchenkörpern verstecken. Am Morgen danach laufen wir schnell durch den verlassenen Teil der Insel, um uns möglichst noch vor Sonnenaufgang schlafen zu legen. Ich lasse mich in den Sand unter einen Strauch fallen. Als ich einige Stunden später die Augen aufschlage, habe ich das runde, zarte Gesicht des schlafenden italienischen Gruppenleiters direkt vor mir. Ich komme ihm noch etwas näher und mache die Augen wieder zu. Eines Tages verstauen wir unsere Kleider in grossen schwarzen Töpfen, die wir an der Wasseroberfläche vor uns herschieben, und schwimmen zu einer einsamen Insel. Wir verbringen den Tag damit, über den unberührten Kiesel zu streifen, auf den bestimmt schon hunderte arrogante Jugendliche ihre Füsse so wie wir mit der Inbrunst grosser Entdecker gesetzt haben. Die Steine sind rot, weiss, das Gras ist dicht. Von der anderen Seite der Insel aus schwimmen wir zu einer noch kleineren. Der Wunsch, bis ans Ende zu gehen, ganz ans Ende, so weit, wie man nur ans Ende gehen kann, so wie ich später in Norwegen bis zum Nordkap fahre oder in Italien bis nach Apulien. In Griechenland singen wir auf der Strasse, essen Gyros und schlafen am Strand, wo man morgens schnell verschwinden muss, weil das verboten ist. Wir trinken Tequila Bum Bum in den Bars auf Ios, und ich nehme Antibiotika wegen einer Allergie gegen die riesigen Spinnen, die uns in den Nächten unter freiem Himmel besuchen kommen. In den Strassen von Ios stürzt eine schwarze junge Frau, Vera weint, und ein Mann, den ich nicht sehe, verbrennt mich mit seiner Zigarette oben am Schenkel. Nachts rauche ich manchmal Zigaretten auf den Decks der Fähren. Ich mag das nicht, ich weiss nicht genau, wie man es macht, und eigentlich mache ich es auch gar nicht. Ich halte die Zigarette falsch, inhaliere nicht, muss mich zusammenreissen, um nicht zu husten, und mir tut der Hals weh.

Manchmal schlafen wir im Innern der Fähren auf den Treppen der schicken Restaurants, wo die Klima-anlage die Halsschmerzen noch verschlimmert. Eines Tages erwache ich auf dem Kai, im Stehen, den Rucksack auf dem Rücken. Ich erfahre, dass sie mich dort unten im Schiff kaum wach bekommen haben, aber dass ich schliesslich aufgestanden bin, meinen Rucksack genommen und mich der Gruppe angeschlossen habe. Schlafwandeln. Die Hand, auf der ich gelegen habe, ist eingeschlafen. Manchmal braucht es einen Beweis für das, was geschieht. Wir waschen uns alle vier Tage, alle fünf Tage. Am Morgen schneiden die Gruppenleiter zwei Brote in die grossen schwarzen Töpfe, und kaum geben sie grünes Licht, fällt die verpickelte Masse, die wir sind, darüber her. Wir kaufen uns in den Hafen-kiosken Kekse, um den Hunger zu stillen. Ich trage die ganze Zeit meine ganz knappen, engen Jeansshorts, die kurz über der Zigarettennarbe enden. Auf Paros zeichnet mich der italienische Gruppenleiter aus der Entfernung, ohne dass ich es merke. Ich lungere auf einem Liegestuhl im Schatten der Pinien. Er fragt uns, ob wir schon mal mit jemandem geschlafen hätten. In Athen behandelt er meinen Sonnenstich, der mir den Gedanken an den Tod näherbringt. Wir teilen uns zu zweit ein Bett in einem vor Schaben wimmelnden Untergeschoss, wo Tag und Nacht mehr als 40 Grad ohne Frischluft herrschen. Er legt Kühltücher auf meine brennende, zitternde Haut. Ich trage einen Mädchen-BH. Heute könnte ich mir die Szene kaum in Erinnerung rufen, ohne das Moment der Lust hinzuzufügen, aber im Grunde gab es die Lust vielleicht schon damals. Noch immer in Griechenland – auf irgendeiner Kyklade in irgendeiner glücklichen oder unbekümmerten Erschöpfung – duschen Vera und ich nackt und blond auf einem Campingplatz. Wir vergleichen unsere Bräunungsstreifen, das überraschende Ergebnis von Sonnenschutzfaktor 60. Vielleicht finden wir uns zum ersten Mal schön, wir lachen viel. Auf der Rückfahrt über Italien in die Schweiz müssen wir im Zug noch einmal die Liegeplätze teilen. Wir trinken Tequila und den Ouzo, der eigentlich für die Eltern gedacht war. In Mailand stapelt die Gruppe die Rucksäcke in einer Ecke des Bahnhofs und macht sich auf die Suche nach Frühstück. Vera und ich bleiben zurück, um aufzupassen. Wir legen uns mit ausgebreiteten Armen auf die etwa fünfzig staubigen, warmen Rucksäcke. Jetzt sind wir trunken genug – von allem –, um nach Genf zurückzukehren und ein paar Stunden später unsere Eltern wiederzusehen. Vielleicht hat so alles angefangen. In Genf wasche ich mich dreimal von Kopf bis Fuss. Ich weine dem griechischen Sand nach, der unwiederbringlich im Abfluss der Schweizer Dusche verschwindet. Ich ziehe ein rotes Baumwollkleid an, spiele in der Halbsonne eines brav-bürgerlichen Nachmittags Pingpong, ich fühle mich seltsam wohl. Ja, vielleicht ist so die Lust aufs Reisen gekommen. Viele Jahre später lese ich folgenden Gedanken: «Ich hätte nie gedacht, dass man so glücklich sein kann. Es war dieser nordische Sommer, der mir klarmachte, wie ich im Nomadentum heimisch werden kann» (Nicolas Bouvier). Im Nomadentum heimisch werden. Eine einladende Antithese, doch. Ich habe heute keinen blassen Schimmer mehr, warum ich in jenem Sommer aufgebrochen bin, ich wäre nicht imstande, auch nur den allerkleinsten Grund zu nennen. In jenem Sommer war ich auch das erste Mal verliebt. Auf der Rückfahrt rief ich ihn von Brindisi aus an. Wir mussten einige Stunden totschlagen in der Stadt und in den makellosen Toiletten im McDonald’s, die uns das himmlische Gefühl gaben, wieder in der Zivilisation zu sein.

Die Telefonzelle war rot, very British. Ich kaufte eine Karte mit italienischen Lire. Ich rief mehrere Male an, um ihm einen Kinobesuch gleich nach meiner Rückkehr vorzuschlagen. Auch weil ein Anruf aus der Ferne immer mehr bedeutet als derselbe Anruf aus dem Alltag. Er nahm nicht ab, er war verreist. In ein winziges Notizbuch schrieb ich meine Gefühle, oft gesagt, oft schlecht gesagt, und doch für mich ganz neu. Ja, in jenem Sommer hat wirklich alles angefangen. Ein Jahr später würde es Australien sein, weitere zwei Jahre später Kanada, dann Italien, Marokko, La Réunion, Kroatien, die Türkei, Burkina Faso, Osteuropa, Indien, Syrien. Man weiss nie so genau, worauf man sich einlässt, wenn man auf Reisen geht, aber wie in einem Roman ist alles von Anfang an da. Die Unwissenheit über die Ursachen, die uns steuern, und die Relativität dieser Ursachen, die Schwierigkeit des Aufbruchs und der unerklärliche Reiz, der uns dazu bringt, der latente Schmerz und die gesteigerte Fähigkeit zum Glücklichsein. So verschwommen meine Erinnerungen an die Zeit, als ich fünfzehn war, sind, so genau weiss ich, dass alles bereits da war. Und dass ich mich niemals gefragt habe, ob ich diese erste Reise bereute.

 


Aude Seigne ist Schriftstellerin und lebt in Genf. Der hier vorliegende Text ist eine exklusive Übersetzung aus ihrem Debüt «Chroniques de l’Occident nomade» (Éditions Zoé, 2011). Das Buch basiert auf Reisenotizen der Autorin, wurde mit dem «Prix Nicolas Bouvier» ausgezeichnet und befand sich im Rennen um den Preis «Roman des Romands» im Jahr 2011.

 

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