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«Die erotische Literatur ist tot»

Ein Besuch im «Dokumentationszentrum der erotischen Ausdrücke und Liebesverhältnisse» in Lausanne.

 

Mitten in Lausanne, in einem geduckten, etwas windschiefen, leicht zurückversetzten Haus, befindet sich ein Ort, der in Europa seinesgleichen sucht. Archiv, Buchhandlung, Verlag, Ausstellungsort, Textilwerkstatt: «HumuS» ist all das gleichzeitig und in eklektischem, buntem, chaotisch wirkendem Nebeneinander. Das Einzigartige: Dieses Haus ist randvoll mit erotischen Büchern: Über 20 000 davon beherbergt die Sammlung der «Fondation Internationale des Arts et Littératures Erotiques» – kurz: F.I.N.A.L.E. –, die sich hier einquartiert hat; Stiftungszweck: «Zusammenstellung erotisch inspirierter Werke wie Schriften, Kunstwerke, Gegenstände sowie anderer Träger».

«E. L. James hat das Genre kaputtgemacht»

Man betritt dieses Reich durch die 2010 eröffnete Buchhandlung; einen Raum weiter sitzen in einem Gewimmel von Webstühlen, Garnen und mit Kunstkatalogen vollgestapelten Tischen Michel Froidevaux, Doktor der Politikwissenschaften, Gründer und Präsident von  F.I.N.A.L.E., und seine Frau Danièle Mussard, Textilkünstlerin und Vizepräsidentin der Stiftung. Erst einmal gibt es Mittagessen: warme Sandwiches mit Rohschinken und Auberginen aus einem kleinen Laden in der Nähe. Dann führt mich Michel Froidevaux durch sein Reich: Seit den 1980er Jahren sammelt er hier erotisch Inspiriertes aller Art. Wir beginnen in der Buchhandlung. Sie führt nicht nur erotische Titel, sondern widmet sich generell den «mauvais genres», den geringgeschätzten Sparten, dazu kommt Seltenes und Kurioses aller Art: Comics, Kunstbuch, Graphic Novel, Humor. Das erste Regal ganz vorne ist «Japon» beschriftet: Japan, darin Mangas, aber auch klassische Literatur.

«Alles läuft besser als Erotik!», ruft Michel Pennec aus, der die Buchhandlung seit 2010 führt, «die erotische Literatur ist tot.» Er führt mich zum Tisch mit den Neuerscheinungen. «Schauen Sie selbst: Was davon ist erotisch? – Nichts!» Ganz stimmt das nicht, ich entdecke eine Studie über die Sexualität der Frau, weiter hinten den neuesten Band von Virginie Despentes’ Subutex-Reihe. «Despentes schildert Sex kraftvoll und doch mit Humor, das stimmt. Aber sonst? E. L. James hat das Genre kaputtgemacht!» Kommen auch Leute, die nach James’ «Fifty Shades of Grey» fragen? «Wir führen die Reihe nicht; das hat nichts mit erotischer Literatur zu tun, wie wir sie verstehen und schätzen, und auch unsere Sammler suchen so etwas nicht. Bei uns geht es um den künstlerischen Ausdruck von Sinnlichkeit.» Charlotte Roches «Feuchtgebiete» hat diese Hürde offenbar genommen, ich entdecke es auf der benachbarten Auslage. Aber in der Tat: Beim Streifzug durch die Regale des Cabinet érotique – «Dictionnaire horizontal» (Werbeaufkleber: «Le dictionnaire qui fait rougir Larousse»), «Les belles d’Europe», «Almanach de tous les seints», «Pornarina: la-prostituée-à-tête-de-cheval», oder auf Deutsch: «Der italienische Venusberg», «Mein heimliches Auge» und Eduard Fuchs’ sechsbändige «Sittengeschichte» von 1902–1912 – entdecke ich kaum ein Buch, dessen Umschlag nicht wirkt, als habe er schon ein paar Jährchen auf dem Buckel.

«Alles läuft besser als Erotik!»

Um dieser Misere zumindest ein kleines bisschen entgegenzuwirken, publizieren die «Editions HumuS» selbst künstlerisch-erotische Titel. Ein schweres, grossformatiges Buch sticht neben diversen kleineren, oft illustrierten Bändchen heraus: «éros, indéfiniment» versammelt auf 430 Seiten alles, was es zur Erotik in der französischsprachigen Kunst und Literatur zu sagen gibt – und mehr. Ein Coffee-Table-Book für libertinäre Geister. Insgesamt hat HumuS seit 1988 gut hundert erotische und humoristische Titel veröffentlicht. Für die Reihe «Eros singuliers» habe HumuS 2012 einen «Prix Sade» gewonnen, benannt nach dem berühmten Marquis, bemerkt Froidevaux stolz. Hat Froidevaux selbst ein sinnliches Lieblingsbuch? Er muss überlegen, dann nennt er einen Deutschschweizer: «Jürg Federspiels ‹Geographie der Lust› ist einer der ganz grossen erotischen Romane.» Und auch Dürrenmatt sei für ihn ein grosser Erotiker.

Lausanne gilt als schweizerische Hauptstadt der Erotik. Das beginnt mit seiner hügeligen Topographie, in der, wer möchte, weibliche Rundungen sehen kann. Hier steht mit dem Cinéma Moderne eines der grössten noch bestehenden Sex­kinos weltweit. Und es war auch in Lausanne, wo im Jahr 1994 mit einer Ausstellung namens «Deep Inside» ein Erotikmuseum eröffnete. Die erste sollte allerdings auch die letzte Ausstellung gewesen sein: Die Stadtbehörden stellten sich auf den Standpunkt, sie hätten nur eine Veranstaltung bewilligt, keine dauerhafte Institution. Die olympische wollte zumindest offiziell nicht auch noch erotische Kapitale werden.

«Lausanne gilt als schweizerische Hauptstadt der Erotik.

Das beginnt mit seiner hügeligen Topographie.»

Wenn Lausanne die Hauptstadt der Erotik ist, dann ist das HumuS der Tresor mit den Kronjuwelen. Die eigentliche Sammlung, das «Dokumentations- und Konservierungszentrum der erotischen Ausdrücke und Liebesverhältnisse», befindet sich eine Etage weiter oben. Sie quillt zwar aus allen Regalen, geordnet ist sie jedoch feinsäuberlich: Belletristik, Sexuelle Praktiken, Ratgeber, Homosexualität, Prostitution, Wissenschaft, Comics – daneben auch Zeichnungen, Postkarten, Filme und ein paar Gemälde und Skulpturen von Penissen, Brüsten und Nackedeis.

Wer ordnet, sortiert, katalogisiert das alles: insgesamt weit über 50 000 Einzelstücke? Erhält HumuS Subventionen, Beiträge aus der Kulturförderung? – Froidevaux winkt ab: «Wir haben es oft versucht, geklappt hat es fast nie.» Immerhin: HumuS darf jährlich einen Zivildienstleistenden beschäftigen, der beim Katalogisieren mithilft. «Ansonsten übernehmen das neben uns selbst ehrenamtliche Enthusiasten», sagt Danièle Mussard. «Ein Pensionär kommt jeden Morgen ein paar Stunden vorbei.»

Und warum macht man das? «Wir sind überzeugt», er­läutert Michel Froidevaux, «dass Auffassungen von Recht und Unrecht und insbesondere Sittlichkeitsbegriffe Moment­aufnahmen sind.» Einige Jahrzehnte später würden heute verrufene sexuelle Praktiken und ihre Darstellungen vielleicht ganz anders eingeschätzt werden. Darum bewahre F.I.N.A.L.E. diese Werke auf, von denen nicht wenige in Nationalbiblio­theken nicht geführt würden. Manchmal seien nicht einmal Autor oder Herausgeber eindeutig festzustellen. Und ausserdem: «Erotik, Sinnlichkeit – das sind doch wichtige Freuden und Antriebe im Leben», sagt Danièle Mussard. «Etwa nicht?»

Weshalb es der erotischen Literatur so schlecht gehe? – Rein rechtlich, sagt Mussard, wären es ja gute Zeiten für libertinäre Kunst. Die Zeiten, als explizite sexuelle Darstellungen als «unzüchtig» eingezogen und vernichtet wurden, seien vorbei, das Verständnis von Sittlichkeit sei heute weniger eng und die entsprechenden Rechtsparagraphen gelockert worden. In der Tat wurde etwa Artikel 204 zu «Verbreitung und Vertrieb unzüchtiger Veröffentlichungen», der darauf, was in literarischen Schilderungen erlaubt und verboten war, erheblichen Einfluss ausübte, 1985 ersatzlos aus dem schweizerischen Strafrechtsgesetzbuch gestrichen. Im öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs dagegen, meint Mussard, schienen ihr Intimthemen und das Interesse, sie miteinander zu erörtern, weniger Platz einzunehmen als vor einigen Jahren: «Wenn ich mit meinen Freundinnen zusammensitze und von meiner Vagina anfange, rede ich ins Leere. In den siebziger Jahren hätten alle durcheinander geredet!», lacht Mussard.

Ein letztes grosses Projekt

Weiter durch die Regalreihen. Auch mehrere Tausend deutschsprachige Werke sind vertreten, einen grossen Teil hat der unermüdliche Zürcher Sammler Rolf Burger beigetragen, der die Sammlung weiterhin regelmässig um zusätzliche, auf Flohmärkten, bei Haushaltsauflösungen und an sonstigen möglichen und unmöglichen Orten aufgespürte Ergänzungen bereichert: Studien, Psychoanalytik, Ratgeber – im Deutschen werde die Sexualität offenbar mehr problematisiert und ana­lysiert, merkt Michel Froidevaux schmunzelnd an. Mit den «littératures», die hier gesammelt werden, ist denn auch nicht nur Belletristisches gemeint. Wie die Wissenschaft über Sex  urteile, sei aber auch interessant und mindestens genauso sehr dem Zeitgeist unterworfen, sagt Froidevaux.

Nach der Führung durch die Fondation, bei einem starken Kaffee, verraten mir Michel und Danièle, beide in ihren Sechzigern, noch ihr vielleicht letztes grosses erotisches Vorhaben: Ihnen schwebt ein umfassendes Ausstellungsprojekt zur Erotik in der Schweiz vor. Der Titel – «éros helveticus» – steht schon fest, im Historischen Museum von Lausanne soll das Ganze stattfinden. Und natürlich haben die beiden – von der Erotik der Armee bis zu zahlreichen Abbildungen, die Berner Modi und Berner Bär in erotischer Verbindung zeigen – schon reichlich Material gesammelt.

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