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Telekuss

Eine – sorry! – nicht ganz richtige Weihnachtsballade.

 

Wenn ein Schweizer Literaturmagazin zum Thema «Sex» recherchiert, kommt es am sogenannten «Babyficker-Skandal» von 1991 kaum vorbei. Der Schweizer Schriftsteller Urs Allemann war mit dem gleichnamigen Text, in dem ein Ich-Erzähler darüber sinniert, wie und warum er Kleinkinder «ficke», zum Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis angetreten. Die Reaktionen waren heftig. Eine zynische, geschmacklose Provokation? Oder bezeugte gerade auch die ausgelöste Verstörung die literarische Qualität von Allemanns zweifellos radikal und raffiniert konstruierter Rollenprosa – weil Literatur «die Grenze, an die sie mit ihren Fantasien und Erfahrungen stösst, immer wieder suchen» muss (Jurymitglied Hellmuth Karasek)? «Babyficker» gewann in Klagenfurt schliesslich den Preis des Landes Kärnten. Und doch hatte Allemann einen Stempel aufgedrückt bekommen. Er werde oft gefragt, sagte der Autor dem «Literarischen Monat», ob er den Text von damals heute noch so schreiben würde. «Nein», sei seine Antwort – «sondern so». Den mit diesem «so» gemeinten Text lesen Sie hier. (Stephan Bader)

 

Ich hatte den alten Carruthers mit dem Spaten niedergeschlagen.

Ich setzte mich neben den Toten aufs Trottoir und weinte ein wenig.

Die abgeschmackten Alliterationen taten mir gut.

Ich wiegte mich in ihrem Wohlklang, mir war nach Ruhen zumute.

Ich auch bald, flüsterte ich.

Zuerst paar sonore Siebentakter, dann der Dreitakter – zack!

Aber wie weiter? Heim an den Schreibtisch, um ein Gedicht oder eine Geschichte zu schreiben? Oder auf der Walstatt bleiben beim Carruthers-Kadaver?

Kadaver. Walstatt: Wie Fruchteis zergingen die Wörter mir auf der Zunge.

Ich stellte mir vor, wie mit den Wörtern zusammen die Zunge und mit ihr der Mund und mit ihm all das Fleisch, das ich je – verwesen Unwesen? – gewesen sein würde – nein, ohne Würde! ganz ohne Würde! – zerging.

Neben dem unbeseelten Körper des Hingerichteten sässe die unbekörperte Seele des Henkers auf dem Trottoir.

Neben den sterblichen Überresten des alten Carruthers womöglich die unsterblichen – wer wusste das im voraus? – unseres Beat.

Spitzengeschwiemel. Erstklassiger Schmock. Labsal für meine Ohren.

Wirkliche Ohren. Aus wirklichem Fleisch. Beat gabs. Ich war voll da.

Seelisch umnachtet, das mochte sein, körperlich jedoch – bingo!

Zu erzählen war nichts, ergo – Logik! – erzählte ich nichts.

Es war Abend. Es nachtete ein. Es war kalt. Es war Winter.

Ich zog ein Taschentuch aus der Tasche und trocknete meine Tränen.

Nicht fahrig, wie sonst oft, wenn ich was tue, sondern sorgfältig,
behutsam.

Träne um Träne tupfte ich mir von der Wange.

So wie im Märchen der Wasserkünstler aus dem strömenden Regen die schönsten Regentropfen herausfischt, um sie Tropfen auf Tropfen auf Tropfen aufs Zauberschnürchen zu ziehn.

Hatte mir das Schlummermädchen, korrigierte: Schlummermärchen, vor Sekunden ausgedacht, um mir eine Freude zu machen.

Als meine widerlich feuchte Wange – warum sprach ich immer von
einer? ich hatte zwei! – wieder trocken war, fiel mir ein, dass Weihnachten war. Also machte ich sicher nichts falsch, wenn ich den
Carruthers-Schädel samt dem, dessen oberes Ende er war, in den
Genuss einer Wohltat kommen liess, die, falls sie legitimiert werden musste, jederzeit als Weihnachtsgeschenk deklariert werden konnte.

Ein Weihnachtsgeschenk, das musste nicht ein Ding (wie zum
Beispiel ein Spaten), das konnte auch eine Dienstleistung (wie zum Beispiel ein Spatenschlag) sein.

Ich strich mit dem Taschentuch so behutsam über den Schädel des Toten, wie ich mit ebendemselben Taschentuch vor wer weiss wie vielen Sekunden meine vom Flennsaft überflutete Wange abgewischt hatte.

Gigantischer Schock! Nichts zum Abwischen da. Kein Samen. Kein Blut. Keine Zähre. Kein Schweiss. Kein Eiter. Kein Schnodder. Kein Speuz. Kein Pipitröpfchen. Kein Kacka.

Auch gekotzt hatte der alte Carruthers kurz vor seinem Ableben nicht.

Sauber. Trocken. Bereits etwas kühl. Der Schädel, an dem da herumgeputzt wurde, bedurfte der Reinigung nicht.

Und nun? Wie weiter? Es war Heiligabend. Geburtstag des berüchtigten Jesus. Todestag des alten Carruthers. Geburtstag von Tante Ruth.

Tante Ruth war mit Onkel Joseph seis bekannt, seis verwandt. Onkel
Joseph hatte keinen Sohn, Tante Ruth keinen Mann. Also wusste ich, dass Onkel Joseph, wer immer er war, nicht der Schwiegervater von Tante Ruth, Tante Ruth jedoch, wer immer sie war, nicht die Schwiegertochter von Onkel Joseph sein konnte.

Gehörte es zu meinen Obliegenheiten, für Tante Ruth das Quasimännlein, für Onkel Joseph ein Söhnchenreplikat auf die Bühne zu zaubern?

Weihnachtsballade, hörte ich eine Stimme, die mich von fern an die von Beat erinnerte, sagen: Ich könne es Weihnachtsballade nennen, worüber sich der seit Sekunden den eignen Kopf zerbreche, von innen, der vor Sekunden den Kopf des Andern zerbrochen habe, mit dem Spaten, von aussen.

Ich wandte mich wieder dem Carruthers-Schädel zu, von dem ich mich in Wahrheit nie abgewandt hatte.

Mit Hilfe des Taschentuchs waren wir einander nicht nähergekommen. Half unmittelbarer – id est: durch kein Drittes vermittelter – Körper­kontakt?

Weisse Weihnachten waren es nicht. No, Sir! Es nieselte etwas.

Drei, vier, fünf Grad. Mehr sicher nicht. Weniger ganz sicher auch nicht.

Ärgerlich, dass ich nicht angeben konnte, welcher Anteil der Schuld an der Nassheit der Wange, vor der mir gegraust hatte, bis es zu guter Letzt dem Nastuch geglückt war, die Ordnung zu restituieren, aufs Konto der Briëggbrühe, welcher Anteil aufs Konto des Regens ging.

Wer was erzählte, verhedderte sich. Es war drum klüger, wäre drum klüger gewesen, es bleiben zu lassen.

Merkwürdig, dass trotz Nieselregen der Schädel des Toten nicht nur sauber und kühl war, sondern auch trocken.

Ein Irrtum. Es regnete gar nicht. I wo! Ich hatte gar nie geweint.

Warum auch? Ich war ja froh darüber, dass es mir nach so vielen Millionen Sekunden endlich gelungen war, Carruthers zur Strecke zu bringen.

Zu welcher Strecke? Ich spielte nicht mit, war zum Albern nicht aufgelegt heute.

Irgendwer hatte vor etlichen Sekunden in meiner Gegenwart ein Wort fallen lassen, das mir jetzt, ich schauderte, zufällig einfiel. Ein auf der ersten Silbe betonter, wegen dreier Ks unschmiegsamer, unmelodiöser, kurz: unlyrischer Viersilber: Körperkontakt.

Ich knöpfte meine Hose auf. Dann die des alten Carruthers. Dann knöpfte ich meine Hose wieder zu. Und dann die von Carruthers.

Heute nicht. Heute war Weihnachten. Heute bliebs weggeschlossen, das Wurmzeug.

Was mich zu Tränen rührte, wiewohl es sonst wenige gab, die mit dem Augenwasser so geizten wie ich: Dass wir beide an diesem Morgen, unabhängig voneinander, jeder für sich, im festen Vertrauen, das einzig Rechte zu tun, nicht in die Alltagshose gestiegen waren, die mit dem Reissverschluss, vielmehr in die mit dem Knopfverschluss, in die Feiertagshose.

Flennsaft? Briëggbrühe? Augenwasser? Genug des nulligen Pröbelns! Ich situierte mich konservativ, gelobte, von Sekund an nur mehr von Tränen, unter besonderen Umständen (Abdankungsmeeting, Trauertalk) von Zähren sprechen zu wollen.

Dass kein Blut am Carruthers-Schädel klebte, bedeutete doch: Der Schlag mit dem Spaten war gar nicht die Todesursache gewesen. Sondern nur ein Begleitumstand. Der doch wohl chaostheoretisch exkulpierbar war – zack!

Doch ob auch kaum die Luft mein Spatenschlag / bewegt hatte, er hatte es / empfunden, war vergangen.

Legen ander ein in Hände. / Mund kühlen! Auf, Langer! Kuss!

Als sich Beats Hände den Händen, Beats Lippen den Lippen des toten Carruthers näherten, wurde mir übel, was alle vier, beide Hände, beide Lippen, ohne eine Sekunde zu zögern, als imperatives Zurückmarschmarsch interpretierten.

Ich erinnerte gern die Gespräche, die Onkel Joseph mit mir geführt hätte, wäre ich nicht zu klein gewesen dafür.

Unvergesslich, wie der Professor über die Löcher dozierte.

Der Urjoseph hatte dem Urkind mit dem Urschwanz sieben Löcher in den Urkindschädel geschlagen. Dann, um sein Werk zu vervollkommnen, hatte er noch in den Urkindrumpf mit dem Urschwanz zwei Löcher gebohrt. Durch die Löcher konnte der Ursaft, der im Innern des Urkinds rumorte, raus ins Offne, ins Freie. Vorher musste der Ursaft sich noch in neun Einzelsäfte entmischen. Für jeden Saft war je ein Loch als Abflussort programmiert. Aus dem Mundloch tröffe der Samen, aus dem linken Ohrloch das Blut, etwas Pissi, wer weiss, aus dem rechten Nasenloch, Speuz aus dem Poloch.

Seit vielen Sekunden war ich der Ansicht, dass ich seit vielen, vielen Sekunden im Kopf nicht ganz richtig war. Schuld daran war, daran gabs keinen Zweifel, der alte Carruthers.

Müde Treibens, des bin ich, ach!

Hatte Carruthers, während er starb oder kurz vorher oder kurz nachher, noch einmal abgespritzt?

Die Rohheit der Frage stiess mich so ab, dass ich für eine Sekunde mit dem Gedanken spielte, mir die Zunge abzubeissen und sie dem Toten vor die Füsse zu spucken. O er war kein Zungenverächter gewesen, dieser Carruthers.

Auf dem Schädel des Toten und im Umkreis von was weiss ich wie viel
Metern um ihn herum fand sich kein Spürchen! kein Spürchen! Ejakulat.

Ich imaginierte den Titel der letzten Levite, die Onkel Joseph mir, wäre er nicht allzu früh verstorben, gelesen hätte: Die Theorie der Erektion als antizipierter Leichenstarre am lebendigen Leib.

Wäre Carruthers nackt gewesen, als er sich freiwillig? unfreiwillig? trennte von seinem Samen, er hätte sich das Zeug mühelos über Brust, Kinn, Nase hinaus auf den Glatzkopf geschossen.

Hatte der Alte Haare am Kopf? Ich konnte es nicht sehen, es nicht ertasten. Ich wusste es nicht.

Meinen Vorschlag, den Toten zu beschreiben, lehnte ich ab.

O Cárruthers, o Cárruthers, wie schwarz sind deine Stoppeln. Du brünstetest nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn man ebenfalls freit. O Cárruthers, o Cárruthers, wie schwarz sind – und so weiter.

Aber nu is Schluss mit was sich nich schickt: / Carrutherchen, es hat sich ausgefickt.

Was andern, wenn ich recht informiert war, die Mutter, war Tante Ruth mir.

Sie hielt mich kurz, aber sie hielt mich. Händen ihren in? Sanft unendlich? No, Sir! Das ging nicht. Tante Ruth hatte Angst, mich fallen zu lassen.

Ich wusste, ich konnte poetisch nicht punkten mit dem Wort Körperkontakt. Ich war aber willens, weil Weihnachten war, nach Millionen und Abermillionen Sekunden Zwist mit dem Herrn auf dem Trottoir meinen Frieden zu machen.

Hätte Tante Ruth nicht zufällig Geburtstag gehabt, ich hätte sie aus meiner Weihnachtsballade mit Handkuss! herausfallen lassen.

Brust meine, in komm, ach komm!

Lass uns, schlug ich dem Toten vor, zusammen den Friedensschwanz
lutschen. Nix nekro, nix fella, nix zio, Sir! Festakt – sinnlich-besinnlich.

Ich steckte mir den Spatenstiel in den Mund und saugte daran. Am Holzende, nicht am Metallblatt, versteht sich. Ich meinte es ernst mit dem Frieden.

Dann stand ich auf und drückte das vom Speuz gleitfähig, glitschig gemachte Spatenstielende Carruthers zwischen die Lippen.

Ich weinte ein wenig, ich warf den Spaten – innert Sekunden wurde mir klar: voreilig! voreilig! – weg.

Ich suchte und fand das passende Wort für das, was wir soeben hatten dürfen zusammen erleben: / Wir hatten uns, weil Weihnachten war, zum Zweck der Versöhnungsabfederung den ersten und zugleich leider auch letzten Telekuss gegeben.

Nun, da die Feindschaft begraben war, sprach nichts dagegen, alles dafür, auch den Feind selber, der seit Sekunden kein Feind mehr war, zu bestatten.

Statt zerstückeln – beerdigen: Bot Beat, fair genug, an.

Ganz wie ich vorhergesagt hatte, erwies es sich als fataler Fehler, dass nach dem Ende der Friedensfeier ein Trottel, der äusserlich Beat glich, aus freien Stücken, ohne Not, ohne den Akt zuvor durchzudenken, den guten Spaten weggeschmissen hatte.

Ohne den Spaten war die Idee der Beisetzung schiere Schimäre.

Und doch: Was auf der einen Seite nicht nur ein Fehler, sondern ein fataler Fehler zu sein schien, hatte auch eine andere Seite. Eine ganz andere. Ich zögerte eine Sekunde, bevor ich den Begriff Dialektik, der sich mir stürmisch aufdrängte, verwarf.

Ich hatte, wie sichs schickte für eine Weihnachtsballade, Glück.

Mehr Glück, als ich mir vor Sekunden! je! hätte träumen lassen.

Ich liess mir nie etwas träumen, von niemand. Ich träumte selbst oder gar nicht.

Der Spaten, weil ein Entkräfteter ihn geschleudert hatte, war nicht weit geflogen. Ich hätte ihn, hätte ich hingeschaut, mit blossem Auge daliegen sehn, auf der Wiese, an der das Trottoir entlangführte, auf dem Carruthers und ich Heiligabend, besser: tausend Sekunden desselben, zugebracht hatten, besser: dabei warn immer noch! immer noch! zuzubringen zusammen.

Ein paar Schritte. Der Spaten war mein.

Aufstehen hatte ich gar nicht mehr müssen, da ich mich schon erhoben hatte, als ich dem neuen Freund, dem lieben – wie viele Sekunden mochte es her sein? – das Spatenstielende ins alte Mäulchen, das liebe, eingeführt hatte.

Die Wiese. Sie war mein grösstes Glück. Sie war das schönste Weihnachtsgeschenk des Erzählers an sein Gedicht.

Der Spaten hatte den Irrflug genutzt, mir den Ort zu zeigen, wo die Tat, die zu tun war, getan werden konnte. Was hülfe es, den Liebsten in würdigem Loche verscharren zu wollen, wenn der Boden nicht danach wär. Unters Trottoir hätte ich den alten Carruthers mit oder ohne Spaten niemals gekriegt.

Ich hob eine Grube aus auf der Wiese und legte Carruthers hinein. / Dann schüttete ich die Grube zu. Was jetzt noch fehlte: ein Stein. // Eine Platte aus dem Trottoir brechen ging über meine Kraft. / Das hätte ich in Milliarden Sekunden nicht geschafft. // Drum pflanzte ich statt des nicht zu kriegenden Steins den Spaten aufs Grab / und brach an dieser Stelle den Sechszeiler, weil er fertig war, ab.

Den Lebensabend würde ich mit langen Spaziergängen ans und ums Grab von Onkel Joseph verbringen.

Dafür, dass ich es nie verfehlte, sorgte, gut sichtbar, der Spaten.

Zig Millionen Sekunden lang würde ich meinen irgendwo unter dem Spaten verwesenden, irgendwann unter dem Spaten verwesten Freund und Onkel, den alten Mr. Joseph Carruthers, umkreisen.

Und ich? I echt wouldnt know, Sir! Ein Piepmatz? Ein Häuchlein? Ein Mikrogesang?

Piepiep! Warn alles Piepmätzchen gewesen. Ich auch bald, flüsterte ich.

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