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Die Luftseilbahn

Blutwurst, Austern, Berliner, bis sich die Tafel biegt: Greta misst den Erfolg des Weihnachtsfests an den Kalorien, die sie auftischt. In ihrem Zermatter Chalet findet ein Weihnachten statt, wie es sich jedermann erträumt. Oder etwa nicht? Lesen Sie eine Weihnachtsgeschichte mit überraschendem Ausgang.

Die Luftseilbahn
Illustration von Anja Denz.

Durch das Chalet zog fröhlicher Blutwurstduft. Die Flammen des Cheminéefeuers spiegelten sich in den glasierten Berlinern. Das Tischtuch verschwand fast unter den Tellern mit lappländischen Rentiermotiven, die Lebkuchen schimmerten. Die Adventskränze mit vier roten Kerzen, vier eigentlichen Türmen aus Wachs, warteten auf das Streichholz. Zuckerstangen hingen von den Tannenästen; Hans und Gretel, neun- und zwölfjährig, beide übergewichtig, hatten den Baum unter Girlanden begraben. Bäume sind Heilige: Sie lassen sich schweigend misshandeln. Die Katze hingegen hatte sich versteckt.

Das Matterhorn breitete seine Grate aus, das Fenster rahmte die versteinerten Fledermausflügel ein. Seine tintenschwarze Masse vereinnahmte den Himmel. Noch vor kurzem hatten sich seine Schieferflächen, von der untergehenden Sonne pastellfarben überzogen, im Tafelsilber gespiegelt – hoheitsvoll, schweigend, gut genährt von Alpinisten, die sich angemasst hatten, seine schwarzen Felswände zu ritzen. Jetzt war es nur noch der Gipfel, dessen Zipfelmütze im Abendlicht leuchtete. Greta, die Mutter von Gretel und Hans, hatte soeben die Fleischbällchen fertig gefüllt. Sie widerstand der Versuchung, die Zwetschgenfarce zu probieren: Seit Allerheiligen hatte sie acht Kilo zugenommen und kämpfte mit dem krankhaften Verlangen, sich Dinge in den Mund zu schieben. Sie musste noch die Austern vorbereiten, die Steinpilz-Gratinförmchen füllen, das Weihnachtsbier kaltstellen und den Honigwein zum Belüften in Kristallkaraffen umfüllen. Um sich zu motivieren, hörte sie Lieder einer Tiroler Jodlergruppe. Diese Sänger in kurzen Lederhosen hatten das Kunststück geschafft, schmelzende Sahne in Musik zu übertragen.

Illustration von Anja Denz.

In wenigen Stunden würden Eltern und Cousins eintreffen. Alles würde bereitstehen. Wie jedes Mal, wie immer an Weihnachten. Ein Pferdeschlitten glitt vor dem Fenster vorbei. Man hörte Gelächter. Leute riefen englische Namen, zwischen Fäustlingen hielten sie bunte Päckchen mit Desi­gner-Logos. Bald würden weisse, zartgliedrige Hände unter dem Weihnachtsbaum Cartier-Etuis und orange Hermès-Böxchen öffnen. Zermatt vibrierte im Takt der Festvorbereitungen. Weihnachten war das erfolgreichste Beispiel geistiger Zweckentfremdung der Menschheitsgeschichte. Man feierte die Geburt eines egalitären Anarchisten als Begräbnis der Lebenden unter Wagenladungen von Geschenken. Am 24. Dezember gestattete sich die grenzenlose europäische Nachkriegsneurose eine Atempause – Zeit zum Öffnen der Päckchen, untermalt vom Geräusch emsiger Insektengreifzangen.

Im Chalet war es siebenundzwanzig Grad warm. Die Foie gras schwitzte. Auf dem rosa Stopfleberstück perlten die Fetttröpfchen. Es war der gleiche Tau wie auf Gretas Oberlippe. Die Kirchturmuhr schlug. «Schon fünf Uhr? Seltsam, dass sie noch nicht zurück sind», sagte sich Greta, die bei der fünfundzwanzigsten Auster angelangt war.

Hans-Kristian Kipp, ein bayrischer Apotheker, verbrachte seine Weihnachtsferien seit fünfzehn Jahren im Hotel Mirabeau. Er steckte ein Fünffrankenstück ins Fernrohr und richtete es auf das Kleine Matterhorn. Beim kleinen Bruder des Matterhorns lag auch der Gipfel schon im Schatten. Doch man erkannte das Metall der Seilbahnkabine. Sie schwankte am tiefsten Punkt des Kabels zwischen zwei mit Schnee überzogenen Stützpfeilern. Kipp unterdrückte einen Fluch: Der Umriss eines Mannes war auf dem Kabinendach aufgetaucht, über dem Abgrund. Es war zehn nach fünf und schon fast dunkel.

Eine Viertelstunde später wurde im Büro von Heinrich Heinz, Direktor der Zermatt-Bergbahnen, Kriegsrat gehalten. Der Chef der Zermatter Pistenwärter, drei Bergführer und die Bergretter des Walliser Rettungsdienstes KWRO hörten zu, wie der Chef schäumte. «Mir das anzutun! Am Heiligabend.» Karl und Ernst, Angestellte der Bergbahnen, fuhren normalerweise um 16.30 Uhr von der Bergstation ins Tal. Wie vor jedem Feierabend hatten sie zur vorgeschriebenen Zeit die Anlagen kontrolliert und geschlossen und die Kabine für die Dienstfahrt gestartet. Seither hatte man von ihnen nichts mehr gehört … Die Gondel war auf 2700 Metern über Meer blockiert: Das Bremssystem war ausgelöst worden und hatte sich ins Tragkabel verbissen. Das Funkgerät reagierte nicht mehr.

Im Dorf glitten die Neuigkeiten über den Schnee, krochen durch die Gässchen, schlichen in die Chalets. Aufgeschreckt von den Gerüchten stürmte Greta weinend ins Büro der Zermatt-Bergbahnen. Mit ihr zog durch den mit Skis, Eispickeln und Slalomstangen verstellten Raum ein Duft nach Eclairs. Greta sank auf den Stuhl, den ihr Heinz hinstellte. Ernst und Karl waren ihr nach den Kindern das Liebste auf der Welt. Ersterer war ihr Schwager, der zweite ihr Ehemann. «Tun Sie etwas, Heinz! Sie werden sterben.» Der älteste der Pistenwärter, der aus Crans-Montana kam und als Skifahrer schon siebzehn Knochenbrüche überlebt hatte, beruhigte sie: Die beiden Mechaniker seien gebürtige Walliser, «echte, hartgesottene Kerle», und die Ausrüstung, die sie dort oben dabeihätten, erlaube ihnen, eine Nacht zu überstehen; man brauche keine Angst zu haben, die beiden hätten schon ganz anderes gesehen. Greta schluchzte noch heftiger. Sie stellte sich ihre Weihnachtstafel mit zwei leeren Stühlen vor.

Sieben Uhr abends. Zermatt schwirrte vor ungekannter Nervosität. In den Hotelbars, im Dunst der Spas, bis in die Küchen der Restaurants redete man über die Havarie: «zwei Männer … Seilbahnkabine … blockiert». Der Wind war stärker geworden, Graupelkörner schlugen gegen die Scheiben. «Dort oben muss es die Hölle sein.» In den Strassen wirbelten Windböen den Schnee hoch.

Man würde also den Champagner entkorken, während zwei arme Kerle, deren ganzes Leben darin bestand, den reibungslosen Ablauf der Ferienaktivitäten sicherzustellen, in einem hängenden Zinksarg zu erfrieren drohten. Schon setzten sich die ersten Touristen mit verschämter Miene zu Tisch. Man vermied es, sich anzusehen. Zum Mitgefühl für die Unglücklichen mischte sich eine unbestimmte Feindseligkeit. Diese beiden Idioten, unfähig, ihre eigene Gondel zu bedienen, waren auf dem besten Weg, das Fest zu verderben. Der Abend rückte in die Nähe jener Vernissagen in eleganten Pariser Galerien, bei denen Damen im Nerz Champagner tranken – vor Fotos schwarzer Kinder, die auf dem aufgedunsenen Bauch ihrer toten Mutter sassen.

Die Verlegenheit war mit Händen zu greifen. Man hörte Besteck über Porzellan kratzen. Ein paar Kinder weinten. Etwas war faul im Staate Telemark. Die blinkenden Lichterketten auf den Tannen wirkten plötzlich wie Alarmsignale, die den Gästen in Erinnerung riefen, dass sie schmausten, während Mitmenschen im Sturm darbten.

Acht Uhr. Bei der Bergbahngesellschaft drehte der Krisenstab auf Hochtouren. Heinz überlegte. Die ungewohnte Hirntätigkeit hatte das Gesicht des trinkfreudigen Oberländers rot anlaufen lassen. Ein Rettungsteam zu entsenden war die einzige Lösung. Drei der besten Bergführer des Ortes hatten sich freiwillig gemeldet. Der Plan war perfekt, denn es gab keinen anderen: Mit dem Pistenfahrzeug bis zum Stützpfeiler fahren, diesen hochklettern, dem Seil entlang weiter bis zur Kabine, dann die beiden Pechvögel abseilen. Simpel, aber gefährlich. Heinz konnte sich nicht durchringen. Er kaute an seinen Fingernägeln und lauschte, wie die Windböen ans Fenster der Zentrale schlugen.

Ernst und Karl hatten das Tischtuch ausgebreitet. Auf der rot-weiss karierten Decke standen zwei Flaschen Pinot noir aus Salgesch, eine Magnumflasche Humagne rouge, zwei Flaschen gut gekühlter Fendant und ein Flachmann mit Abricotine. In den beiden geflochtenen Körben lagen eine Hauswurst, ein Pfund fein geschnittenes Trockenfleisch und ein halber Laib Walliser Raclettekäse, den Karl über dem soeben aufgebauten kleinen Primus-Kocher schmelzen wollte.

Illustration von Anja Denz.

Sie würden die Weihnachten ihrer Träume erleben. Seit Jahren redeten sie von diesem Heiligabend oben in Götterhöhen, im Heulen des Sturms … Greta, die in Deutschland auf die Welt gekommen war, mass den Erfolg einer Abendgesellschaft an der Anzahl Kalorien, die sich die Tischgenossen einverleibten. Sie behandelte die Gäste, die ihre Schwelle überschritten, als hätten sie seit sechs Tagen nichts gegessen, und verwechselte ihre Gastgeberpflichten mit der Rolle eines Bernhardiners, der Lawinenopfer reanimieren soll. Die Dicke der Crèmeschicht auf ihren Plätzchen war proportional zur Zärtlichkeit, von der sie überquoll. Sie glaubte, Marzipan mildere die Härte der Welt. In einen Strudel steckte sie ihre ganzen Vorräte an Liebe. Ernst und Karl ertrugen es nicht mehr. Schon zwölf germanische Weihnachten hatten sie zusammen überstanden. Greta lebte in der Sahne, sie hingegen träumten von frischer Luft. Jedes Mal hatten sie sich eine Magenverstimmung zugezogen. Greta verursachte ihnen Brechreiz. Mit den Jahren begannen die höhenerprobten Brüder den 24. Dezember zu fürchten. Die Geburt des gekreuzigten Stoikers mit einem Gelage zu feiern widerstrebte ihrem Protestantismus. Und dann die entzückten Mienen der Gäste, die einem, kaum aus dem Haus, das Messer in den Rücken stiessen…

Heute stand ihr Sinn nach trockener Höhenluft, nach klarem Wein, nach reiner Nacht. Sie würden einen des Zarathustra würdigen Heiligabend erleben, am Kabel einen Drahtseilakt vollführen.

Die Seilbahnkabine würde ihre Traumlaterne sein, aufgehängt an der Decke der Nacht. Als die Kabine talwärts schwebte, hatten sie die Bremse blockiert, das Funkgerät ausgeschaltet, ihre Ruhe erobert. Morgen würden sie zur Talstation fahren und sich mit Greta aussprechen.

Ernst drehte den Flaschenöffner in den Korken des Pinot noir. Karl entzündete den Primus.

Im gleichen Augenblick öffnete sich am Kabinendach abrupt die Falltür. Ein Schwall eisiger Luft drang in die Gondel, der Kopf eines Bergretters erschien:

«Leute! Wir haben es geschafft! Ihr seid gerettet! Wir bringen euch hinunter!»


Illustrationen von Anja Denz. Sie ist freischaffende Illustratorin und lebt in Zürich.
Web: www.anjadenz.net/

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