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«(meine Frau weiss  nichts von dieser Mail)»
Corinna T. Sievers, fotografiert von Stefan Baumgartner.

«(meine Frau weiss nichts von dieser Mail)»

Wer als Frau erotische Literatur veröffentlicht, braucht Leser, die das Wort «Fiktion» verstehen. Über ungewollte Zuschriften aus dem Literaturbetrieb und andere Fehlleistungen.

August 1965, eine Ostseeinsel

Eintrag des Geburtshelfers: Sturzgeburt. Der entbundene Säugling ist weiblich, untergewichtig, jedoch gesund, atmet selbständig und trinkt an der Mutterbrust. Extremitäten unauffällig, Sinnesorgane unauffällig, Genital unauffällig.

Die Mutter ist gross und jung und stark, sie steht auf, setzt ihre Arbeit fort.

Der Säugling weiss noch nicht, in welche Welt er geboren ist, der Säugling weiss gar nichts, seine Synapsen vollständig unverschaltet, die Verknüpfung erfolgt weitgehend innerhalb der ersten zwei oder drei Jahre, überwiegend durch Prägung, ab vier oder fünf bereits wieder die Abschaltung nicht genutzter Potenziale.

Das Mädchen gedeiht erwartungsgemäss, wächst auf in einem Badeort, Vater, Mutter, zwei Kinder. Sitten auf dem Dorf rauh, aber gerecht, es herrscht Transparenz. Wenn es sein muss, legt der Lehrer das Mädchen übers Knie oder verdrischt es im Stehen, vorzugsweise den ihm zugekehrten Popo. Die Sommer sind heiss, kurze Hosen für Mädchen verboten, Kleidchen erlaubt. Sonntags in der Kirche Schleife im Haar. Manchmal, wenn der Onkel zu Besuch ist (er ist Hippie), darf das kleine Mädchen ihm die Brust kraulen, die ist behaart, das Kind gräbt seine Finger hinein, die Finger sind Käferchen, die sich im
Dickicht verirren, es spielt lange mit der Onkelbrust.

Ein anderer Onkel gibt dem Mädchen je Kuss auf den Mund einen Pfennig, für dreissig Küsse kann es sich ein Eis kaufen, es läuft oft zum Kiosk in diesem Sommer.

Neben dem Wohnhaus die katholische Kirche, der Pfarrer hat eine Haushälterin, die Tag und Nacht für ihn da ist.

Manchmal stirbt ein Kind im Dorf, es ertrinkt in der Ostsee oder verbrennt in der Scheune. Oktober 1975, Umzug in die Stadt.

Das Mädchen besucht ein Gymnasium, zwei der Lehrer nehmen Schülerinnen mit nach Hause, die Pubertierenden berichten von Körperkontakten, obwohl sie versprochen haben, den Mund zu halten, aber sie sind stolz, die Auserwählten zu sein. Das Mädchen ist nicht dabei, die Auserwählten allesamt aus prekären Verhältnissen, ausserdem hat es keine Brüste, auch keinen Hintern, und es ist vorlaut, fast ein Junge. Dann wachsen ihm doch noch Brüste, irgendwann greift der Erste zu, Jungen, Männer, Greise, es sollen -zig werden im Laufe dieses Frauenlebens, der Oberstufenschüler, der Arzt, der Friseur, der Fremde. Immer wieder der Fremde.

Das Mädchen reift heran, mehr Beobachterin als Teilnehmende, lehrt sich den Orgasmus aus Büchern, begnügt sich lange mit seinen Fantasien, da sind die Mitschülerinnen schon durchgereicht worden, eine ist Mutter. Die Jungen erstellen ein Ranking und machen es öffentlich, welche hat die geilste Muschi, das Mädchen landet ganz hinten.

Begegnet seinem ersten Exhibitionisten, aber nicht dem letzten, kapiert nicht, warum dem der Schwanz raushängt, es denkt, der muss mal pinkeln. 19 Jahre, es ist auf Reisen mit einer Freundin, in Paris lernen sie einen kennen, Sohn reicher Eltern, er gibt ihnen Obdach, entjungfert beide in derselben Nacht, das merken sie erst später.

Jetzt ist das Mädchen eine Frau. Sie lernt, wie es im Leben läuft, und sie lernt schnell, manche Männer sind Schweine, aber nicht alle, vielleicht sogar die wenigsten, aber immer wieder haben die Schweine das Sagen. Die junge Frau erkennt, dass ihre Muschi eine Währung ist. Sie studiert und wird Ärztin, und sie begreift: Sie muss besser sein als die männlichen Mitbewerber, also ist sie es von da an. Sie fängt an, sich zu tarnen, versteckt ihr Haar und ihre Brüste, im grossen weiten Kittel wird sie am wenigsten begafft. Nebenher hat sie promoviert und inzwischen das ganze Repertoire drauf, das wird erwartet, seit es das Internet gibt, Blowjob, anal, den Dreier mit beiderlei Geschlechtern, einmal lässt sie sich auf Wunsch vergewaltigen, nur Deepthroat liegt ihr nicht, obwohl die Männer ihr ausgedruckte Anleitungen mitbringen.

Sie wird schwanger, und es gelingt ihr, den Bauch bis zuletzt unter dem Kittel zu verstecken, kein Patient fragt sie, wie das zusammengehen soll, Mutter und Ärztin. Eine Woche nach der Entbindung ist sie zurück in der Praxis. Manchmal wird sie krank und geht zum Arzt, der Ophthalmologe streichelt ihr die Schenkel, während er ihre Augen untersucht, der Kardiologe schnallt sie im Höschen an eine Sprossenwand und lässt sie vorturnen, während er telefoniert. Der Urologe untersucht sie rektal, allein mit ihm in einer Kabine, er kreist mit dem Finger, ist ausser Atem, er sagt: «Das ist mein Finger, spüren Sie das, mein Finger.» Da ist sie über 50. Wer sagt, Frauen über 50 seien unsichtbar, hat keine Ahnung.

Irgendwann hat sie angefangen zu schreiben, das wollte sie schon immer, aber war damit beschäftigt, besser zu sein als die Männer. Von jetzt an schreibt sie Romane über den Umgang der Geschlechter miteinander, beschreibt den Sex, wie er ist, am Ende bleiben die Männer und Frauen allein, wie in der Wirklichkeit. Dass sie nicht ihre eigene Figur ist, wenn sie über eine Blonde schreibt, ebenso wenig wie die männliche Hauptfigur ihr Lover, verstehen ihre Leser nicht. Sie bekommt E-Mails an die Praxisadresse. Die Männer glauben, ihre Muschi zu kennen, nur weil sie in ihrer Geschichte eine Muschi beschreibt. Die Sekretärin leitet die Mails weiter an ihre Privatadresse.

Liebe Frau XY, hoffe, es geht Ihnen gut, ich bin 63 Jahre und verheiratet, und so, wie Sie sich in Ihren Büchern beschreiben, könnte ich mir vorstellen, dass wir uns gut verstehen. Mein Dingdong kann sich sehen lassen (meine Frau weiss nichts von dieser Mail). Urs aus Bern.

Im Literaturbetrieb gibt es Lektoren und Verleger und Literaturkritiker, einer schickt ihr Liebesbriefe. Er lässt sie wissen, dass er Lackstiefel mag, drei Wochen später ist er tot, die Lackstiefel tauscht sie um. Es gibt weitere Anfragen, die Reizschwelle alter Männer ist hoch, unter einem Gangbang läuft da nichts.

In irgendeinem Sommer nimmt sie an einem Literaturwettbewerb teil, liest einen Text über die Vergewaltigung eines Patienten durch eine Ärztin, ein Jurymitglied fragt vor laufender Kamera, ob bei ihr noch ein Termin frei sei.

Gelegentlich blickt sie schon zurück, obwohl es dafür zu früh ist, und sie findet, dass es eine unaufgeklärte Gesellschaft ist, in der Frauen begrabscht werden und kleine Jungen nicht lernen, dass das ein Verbrechen ist, ebenso wenig wie kleine Mädchen lernen, sich dagegen zu wehren. Sie findet, dass das auf den Lehrplan gehört, auch wenn sie unversehrt geblieben ist und ihre Muschi. Sie weiss, das ist nicht bei allen so.

So oder so ähnlich könnte es gewesen sein. Machen Sie nicht den Fehler, Autorin und Figur zu verwechseln.

Anfang 2019, Zürich

Der neue Houellebecq, «Serotonin», hat mir sehr geholfen. Houellebecq ist derjenige von der anderen Seite. Er erklärt mir den Mann in seiner oben beschriebenen erotomanen Spielart exem­plarisch anhand der männlichen Hauptfigur Florent: ausgestattet mit einem hochfunktionellen Grosshirn und einem Schwanz, dem die gesellschaftlich geforderte Triebunterdrückung nicht gelingt. Florent betrügt die Frauen, die er liebt. Sein erotischer Leidensdruck verliert sich mit dem Verlust der Erektabilität seines Gerätes, allerdings auch seine Strahlkraft. In diesem Licht sind die oben genannten Männer zu betrachten, die ihre Schlag- und Schaffenskraft aus der Erotomanie beziehen und dabei auf das Objekt, meistens eine Frau, zerstörerisch wirken, letztlich aber vor allem auf sich selbst.

Sigmund Freud spricht von einem neurotischen Gegensatz zwischen auf Bindung und auf Zerstörung abzielenden Trieben. Psychosoziale Reife drücke sich darin aus, dass der Liebeswunsch denjenigen nach Zerstörung neutralisiere. Selbstredend sind auch Frauen ohne psychosoziale Reife anzutreffen, wenn auch zahlenmässig stark unterlegen.

Anfang dieses Jahres erschien ein Interview mit Piper-Verlagschefin Felicitas von Lovenberg in der «Süddeutschen Zeitung», das am 17. Januar unter der Überschrift «Das Frausein hat mir nie geschadet» im «Tages-Anzeiger» erneut abgedruckt wurde. Darin tut sie kund, nie Opfer von Sexismus geworden zu sein, ausser, wenn man so wolle, das eine Mal, als sie wider Erwarten nicht in den Herausgeberkreis der FAZ berufen wurde, und dies mit den Worten: «Ich finde nicht, dass sich ein so nettes Mädchen wie Sie einen solchen Job antun sollte.» Aber letztlich sei sie heute froh.

Oder einmal, weiter zurückliegend, als ihr Reich-Ranicki bei einer Preisverleihung die Hand auf das Knie gelegt und dort habe liegen lassen, allerdings habe sie nicht das Gefühl gehabt, es sei um sie gegangen, sondern darum, die Energie einer jungen Frau zu spüren. Und: Abgründe seien wichtig im Leben, aber sie glaube, für Männer mehr als für Frauen. Wer weiss, welche Abgründe Frau von Lovenberg noch übersehen hat.

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