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Lawinen der Lust in den Lenden

Warum Sex in Büchern oft in die Hose geht.

 

Das Weinglas zersplitterte in seiner Hand. Die Gesichter stoben auseinander.

«Arthur!» Ihre Finger umfassten jäh seine blutende Hand. «Mein Gott, Arthur!»

Melody sprang auf, stand breitbeinig vor ihm und beugte sich über seine Schnittwunden. Gesicht weiss, Augen weit aufgerissen. Ein Knie auf der Couch zu seiner Linken, das andere Bein leicht gekrümmt noch auf dem Boden zu seiner Rechten, mit dem Saum ihres weissen Morgenmantels umwickelte sie seine Schnittwunden, der Mantel teilte sich in der Mitte und enthüllte die Innenseite ihrer Schenkel und die dunkle Stelle, wo sich ihre Beine trafen.

«Arthur. O Arthur.» Seine Hand jetzt verbunden und zwischen ihre Oberkörper geklemmt. Sie setzte sich mit gespreizten Beinen auf ihn und lehnte sich fest an seine Brust, als könne der Druck ihrer Körper auf die Hand die Blutung stillen. Seine Beine zwischen ihren Knien. Ihre Tränen. Ihr unregelmässiger, verstörter Atem. Ihre Angst. Sie presste seine verletzte Hand in die Falten ihres weissen Morgenmantels. Durch ihren Druck teilte sich auch sein Mantel. Schamgefühl ausgeschaltet. Nackte Gliedmassen
berührten sich fast.

Und in diesem von Zartheit erfüllten Augenblick spürte er, wie in seinem Herzen ein süsses Beben zum Leben erwachte, spürte, dass er anschwoll und dem warmen Schatten zwischen ihren Beinen entgegenwuchs, wie ungezügeltes und unkontrollierbares Verlangen sich entfaltete, und seine Erektion und das, was geschah, verschüchterten ihn. […] Zentimeter um Zentimeter wuchs sein Geschlecht an der nackten Wölbung zwischen ihren Beinen, und sie erwiderte seinen Druck, setzte sich rittlings auf sein schwellendes Fleisch.

Alle Zurückhaltung schwand dahin.

Sachte glitt sie dorthin, und aus ihr floss es wie Honig. Sie richtete sich auf den Knien etwas auf, legte ihre Wange an seine. Sie drückte ihm das Kinn sanft in die Halsbeuge; dann wich Zärtlichkeit dem Ungestüm.

Sie löste eine Hand aus der Umklammerung ihrer Körper und schob sie nach unten. Der spannungsgeladene Augenblick endete, als ihre Finger ihn fanden und an jenen Ort führten, ihn nur führten, nicht aufzurichten brauchten, denn sein Fleisch strebte entschlossen auf ihren Mittelpunkt zu. Ihre Hand liess ihn dort los und legte sich um seinen Hals.

Sie senkte sich auf ihn hinab.

Ihre heissen, weichen Lippen verschlangen ihn.

Die geschmeidigen Reife ihres Inneren betörten seine Sinne und umschlossen ihn mit ebenso unwillkürlichen wie wilden Erschütterungen. Die heisse Einkesselung lockerte sich und zog sich wieder zusammen, als sie sich ein Stück aufrichtete, um ihn völlig zu befeuchten. Dann stiess sie ganz auf ihn hinab.

Es verschlug ihnen den Atem.

Heisses ungegerbtes Leder umschloss seine Männlichkeit. Süsse Kraft füllte und fesselte sie. Lust nadelte beider Fleisch mit gnadenloser Gewalt.

«Halt still.» Ihre Stimme heiser, tief, brüchig. Ihre Arme zitterten, ihr Kinn drückte sich immer noch in seine Schulter.
«Halt still», noch einmal. Grobe Anordnung.

Er spiesste sie mit seiner Rute auf.

Sie hatte ihm beide Arme um den Hals gelegt, und endlich kehrte ihr Atem in keuchenden Stössen zurück, die er heiss an der Wange spürte. Ihre Hüften ein glühender Schraubstock.

Er war verloren. Eine Lawine der Lust raste durch seine Lenden, nicht aufzuhalten, nicht aufgehalten.

«Beweg dich! Beweg dich jetzt!» Kehlige Laute in seinem Ohr. Ihre Worte nur halbe Worte. Verlangende Worte. Geschlechtslose Laute. Eher tierische als menschliche Befehle.

Er bäumte sich auf. Die Schnitte an seinen Händen öffneten sich wieder, als sie ihr über den Rücken tobten. Auf seinem Rücken öffneten sich von ihren Nägeln neue rotquellende Kratzer wie feine Spinnweben … auf seiner Schulter von ihren Zähnen. Wilde Zuckungen liessen sie verschmelzen.

Eine halbe Stunde lang verharrten sie reglos so. Ohne ein Wort. Er in ihr und immer noch erregt, als würde in diesen Minuten jeder traurige Stein geschleift, der in all den verlorenen Jahren in all den traurigen Mauern aufgeschichtet worden war.

Sie wusste, wie es um ihn stand. Hart in ihr. Tief. Sie hielt ihn umfangen, und nur zweimal hob sie die Hüften an, um das Wunder zu erneuern.

Sie bewegte sich. Richtete sich ein Stück auf, beugte sich zur Seite und löschte die einzige Lampe auf dem Sofatischchen. Sein steifes Glied glitt dabei nur halb aus ihr heraus, und in der Dunkelheit liess sie sich wieder auf ihm nieder, begrub ihn in sich und forderte noch einmal das gewaltige Wunder. Umschlang ihn wieder mit den Armen. Eine weiche Wange schmiegte sich an eine schlanke Schulter. Augen blieben geschlossen. Sie atmeten in süssem Einklang. In seinen Zügen ein Ausdruck völliger Hingabe, willfährigen Aufgebens; in ihren eine Schwalbe des Trosts auf weichen Schwingen unter schläfrigem Lächeln.

Sie fühlte, wie er in ihr wuchs. Sie wand ihre Hüften in hitzigem Vertrauen, keuchte und zitterte dann an seiner harten Schulter, als sie spürte, wie sein schnelles Verlangen sie weitete.

Plötzlich umklammerten seine Arme sie fester, war seine Härte neu und drang tiefer.

«Arthur?» Ein Wort, in dem Erstaunen und selbst Furcht über das Geschehen mitschwangen. «O mein Gott», als sie seinen brutalen Stoss empfing. Ihr Geist erschauerte, zögerte eine kurze, verständnislose Sekunde, dann ergab er sich, und ihr Körper, der ihm mehr gehörte als ihr, presste sich auf ihn, um das Drängen des Mannes unter und in ihr zu stillen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Lust loderte auf, wütete lieblos und wollte ihn erwürgen.

Er drückte die Knie durch, und sein Körper streckte sich unter gewaltigen Erschütterungen. Sie trieb ihr Geschlecht auf ihn hinab und kam unmittelbar nach ihm … die Vereinigung war schnell vollzogen, aber mit einer Leidenschaft, die der Liebe Angst machte und die Vernunft unter sich begrub.

 


 

Sex. Schöne Sache das. Sex in der Literatur. Schwierige Sache das. Die vorstehende Passage steht in einem Thriller, den ich vor vielen Jahren übersetzt habe und der dann nie auf Deutsch erschienen ist. Was wohl ganz gut ist. Dass Sex auch eine Abrissbirne sein kann, die zu traurigen Mauern aufgerichtete Steine schleift, lasse ich mal ebenso dahingestellt wie die in Melodys Gesicht herumflatternden trostreichen Schwalben mit ihren weichen Flügeln. Kann ja sein, dass sie vergessen hat, das Fenster zuzumachen. Und vorsorglich gekürzt habe ich eine Passage mit so akrobatischen Verrenkungen, dass sich Arthur schlichtweg sein edelstes Teil gebrochen hätte. Kann passieren. Beim «Tier mit den zwei Rücken», als das Shakespeare im «Othello» die Teilnehmer beim traditionellen Chromosomentransfer charakterisiert, müssen vier Arme und Beine im Auge behalten werden, und man sollte es dem Autor nachsehen, wenn es in einem solchen Gliedmassengewimmel nicht immer ganz unfallfrei abgeht. Auch mit dem «sexuellen Stachanowismus» (Julian Barnes), dass Arthur in der kurzen Szene drei oder vier Orgasmen hat, möchte ich mich lieber nicht allzu eingehend beschäftigen. In «Der grosse rote Sohn», seiner Reportage über eine Pornomesse in Los Angeles, lässt David Foster Wallace einen Conferencier das «eigene kümmerliche Getröpfel» mit den «rasensprengerartigen Ergüssen» gewisser Pornodarsteller vergleichen, und mit derlei Superhelden muss man sich in diesem Genre wohl abfinden, auch wenn es bei uns normal­sterblichen Männern Minderwertigkeitskomplexe und Impotenzangst auslöst.

Die Sexszene: eine mehrdimensionale Gratwanderung

Und jetzt im Ernst: Worum geht es? Die Bandbreite literarischer Sexschilderungen ist gross. Der eine Text will aufgeilen, der
andere in einer erotischen Begegnung den Höhepunkt1 einer Erzählung vorstellen. Beides ist legitim, sollte aber nicht in einen Topf geworfen werden. Bei Sexszenen in der Literatur haben wir es, um eine Arbeitsdefinition zu versuchen, mit der sprachlichen Gestaltung physiologischer und emotionaler Intensitäten zu tun, und damit gehen die Probleme los, denn der Autor begibt sich auf eine mehrdimensionale Gratwanderung: Er muss Mittelwege finden zwischen pornografischem Aufgeilen und sinnlich-lustvoller Erotik einerseits, zwischen anatomischem Klinikvokabular und verschwiemeltem Poeteln andererseits. Hinzu kommt die erforderliche Selbstpositionierung im Kontinuum zwischen Populär- und Hochliteratur, Blümchensex und Prosagedicht (man denke etwa an das «Nausikaa»-Kapitel im «Ulysses», wo Blooms Orgasmus mit dem Feuerwerk über Dublin parallelgeführt wird). Als Übersetzer muss ich nur eins im Auge behalten: Was immer der Text beabsichtigt, muss am Ende wieder genauso funktionieren – übrigens auch und gerade wenn das im Original nicht der Fall ist. Beim hier vorgestellten Rammelrummel habe ich damals auch nach diversen Eingriffen und Entschärfungen kapituliert. Der Autor stürzt bei seinen Gratwanderungen in diverse Abgründe, weil er die Textsorten und Stilelemente nicht auseinanderhalten kann. «Die geschmeidigen Reife ihres Inneren» mögen als blumige Umschreibung von Melodys Scheidenmuskulatur gerade noch an der Grenze des Erträglichen herumwabern, «Lust nadelte beider Fleisch mit gnadenloser Gewalt» fällt schon unter metaphorisch missglückte und konkret nicht vorstellbare Überhöhung, und mit «Er spiesste sie mit seiner Rute auf» bin ich plötzlich im Hardcore-Genre. Bei einer solchen stilistischen Achterbahnfahrt werde ich als Leser immer wieder aus der Fiktion geschubst.

Oder schauen Sie sich dieses «Aus ihr floss es wie Honig» an. Gewiss, beim Sex ist der Mensch ein Auslaufmodell, aber eben deshalb dürfen Körperflüssigkeiten niemals erwähnt werden – oder jedenfalls nicht in einer spezifischen «Gartenlauben»-Sparte erotischer Literatur, die im Gegensatz zum richtigen Leben das Wahre, Schöne, Gute und Hygienische hochhält. In realistischen Werken sieht das natürlich anders aus. Ich erinnere mich, dass ich bei «Die Ehre der Prizzis» fast ein «Das ist ja echt!» ins Kino gejubelt hätte, als Jack Nicholson oder seine Partnerin nach dem Höhepunkt reflexartig zum Kleenex greift. Oder dass Joyces Bloom, dessen Orgasmus ja buchstäblich in die Hose geht, hinterher denkt: «Diese Nässe ist doch sehr unangenehm. Klebt. Ah, die Vorhaut ist nicht drüber. Lieber losmachen. Aua!»

«Erotik-tötende Ausdrücke vermeiden»

In den nuller Jahren kursierte in Übersetzerkreisen die Stilfibel eines Heftchenverlags, der die von der Branche sogenannten «Nackenbeisser» produzierte, Liebesromane, auf deren Titelbildern sich breitschultrige Herren über Damen in fortgeschrittenen Stadien der Entblätterung beugen. In dieser Stilfibel wurde nicht nur die Körpersafterwähnung ausdrücklich verboten, den Übersetzern wurde auch verordnet, «erotik-tötende Ausdrücke zu vermeiden», und damit bin ich bei dem meiner Meinung nach grössten stilistischen Sündenfall meines Autors, dem «heissen ungegerbten Leder», das «seine Männlichkeit umschliesst». Ich kann mir nicht helfen, aber wenn sich Melody für Arthur nach ungegerbtem Leder anfühlt, dann ist was schiefgegangen. Und das ist kein Patzer meiner Übersetzung: Im Original stand «rawhide». Um Ihre Assoziationen in die richtige Richtung zu lenken: «Rawhide» hiess die Cowboyserie, mit der Clint Eastwood in den sechziger Jahren im US-amerikanischen Fernsehen bekannt wurde.

Ich höre hier einfach mal auf und konstatiere mit Marcel Reich-Ranicki im «Literarischen Quartett»: Wir stehen da und sehen betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen. Sobald man Sex stilistisch überhöht, wird offenbar vermengt, was besser getrennt bleibt: Pornografie ist Zeigen des Vollzugs, Erotik lebt vom Andeuten. Aber wenn es um Sex geht, ist der Grat zwischen stilvoll und billig ja auch im wirklichen Leben schmal. Und in der Literatur ist die Absturzgefahr nicht kleiner.

  1. Entschuldigung: Die Doppeldeutigkeit ist so unbeabsichtigt wie unvermeidlich.

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