Stillstehende Windräder
Erinnerungen an Kellerbars.
«Aber ich bin von der Anlage her sensibel und nervös in sehr ungewöhnlichem Masse. Ich wurde wahnsinnig, mit Zwischenphasen grausamer Klarheit. In Anfällen absoluter Bewusstlosigkeit trank ich Gott weiss wie oft oder wie viel. Natürlich machten meine Feinde das Trinken für den Wahnsinn verantwortlich, nicht den Wahnsinn fürs Trinken.» – Edgar Allan Poe
Ich sitze im Zug und schaue durch das Fenster auf die von Bahnmasten rhythmisch zerhackte Landschaft, weite Felder und stillstehende Windräder. Diese stillstehenden Windräder machen mich nervös, vielleicht weil es nicht der Sinn und Zweck von Windrädern ist, stillzustehen. Oder kommt diese latente Nervosität nur davon, dass es mal wieder spät geworden ist, gestern? Zwischen zwei Städten zu leben, so scheint mir, sei die perfekte Lösung, so kann ich mein Fernweh und meinen Heimatüberdruss einigermassen in Balance halten und habe immer eine Art Gaststatus im eigenen Leben. Ich fühle mich wohl in diesem Zwischenraum des Unterwegsseins, im Zug kann ich hervorragend lesen, denken und schreiben, ausser es ist spät geworden, wie gestern. Ich bin zu müde, um zu lesen und zu schlafen, ich zähle die verbleibenden Stunden und schwöre, das nächste Mal zu fliegen.
Lili und ich wollten eigentlich schon nach Hause, als wir diese winzige Bar entdeckten, die Stufen führten vom Gehsteig in den Kellerraum, ein paar Tische, ausser uns kaum Gäste. Sie erinnerte uns an eine Karaokebar im eingeschneiten Sankt Petersburg, wo wir vor über zehn Jahren einmal hereingeweht wurden, wir schlitterten über die vereisten Strassen, während die in Pelzmäntel gehüllten Petersburgerinnen ihre zentimeterhohen Absätze pfeilgenau ins Eis stachen. An den Wänden der Bar hingen Fischernetze und grosse Anker aus Pappmaché, wir tranken Wodka und die Frau neben uns, über siebzig, auf ihrem Stuhl sitzend, fing plötzlich an zu singen. Sie sang vom Schwarzen Meer und den schwarzen Augen eines Mädchens, in einer Ecke hing ein Fernseher, der die Songtexte in kyrillischer Schrift über sich abwechselnden Bildern von Sonnenuntergängen und sich küssenden Paaren einblendete. Dann sangen ein paar dicke junge Russen am Nebentisch, und natürlich überredete mich Lili. Wir sangen gemeinsam die drei englischen Lieder, die zur Auswahl standen: «Killing Me Softly», «Total Eclipse of the Heart» und «Yellow Submarine».
In der Berliner Kellerbar gab es weder Fischernetzdeko noch eine Karaokemaschine, dafür einen dunkelroten Drink mit einem seltsam melancholisch anmutenden Namen, dem dieses isländischen Vulkans oder einer irischen Insel nicht unähnlich. Er bestand beinahe ausschliesslich aus Bitterspirituosen. Lili meinte, dass «Eeyore» der depressive Esel aus «Winnie the Poo» sei. «Life is bitter», zitierte sie eine Alkoholwerbung, die wir draussen in der Lakonie des novemberhaften Berliner Oktobers gesehen hatten. Dass nun ausgerechnet Fernet Branca zum neuen Trendgetränk werden sollte, konnte ich mir weniger vorstellen; ich hatte dieses braunbittere Hustenelixier in fünfzehn Jahren als Barkeeperin höchstens mal an jemanden verkauft, der sich den Magen verdorben hatte.
Mein Magen rumort und ich könnte jetzt so einen Bitterschnaps bitter gebrauchen. Die Windräder stehen immer noch still. Die Landschaft verschwimmt im Weiss des Nebels. Und ich denke an die weiss leuchtende, zugefrorene Neva in Sankt Petersburg. Und dann denke ich, dass Erinnerungen eigentlich eine sehr gute Sache sind, wie Filme oder Bücher oder Träume. Und dann, endlich, schlafe ich doch ein.
Eeyore’s Requiem
4,5 cl Campari
3 cl Dolin Blanc
1,5 cl Gin
0,5 cl Cinar
0,5 cl Fernet Branca
je 5–10 Tropfen Angostura und Orange Bitters
Alle Zutaten auf Eis gut rühren und in ein vorgekühltes Cocktailglas abgiessen. Mit einer Orangenzeste abspritzen.
Rezept nach Toby Maloney, The Violet Hour, Chicago