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Viktor Niedermayer:
«Finsterland»

 

Schaferl, Goldketterl und rote Schleiferl. Zigarettenbilder und Shirley Temple im Kino. Willkommen in der bayerischen Provinz der 1930er Jahre! Nach und nach wird die christliche Ikonographie ersetzt, der Führer verdrängt das Marienbild. Menschen verschwinden, Läden schliessen, vormalige Verlierer werden zu bräsigen SA-Leuten. Dann bricht der Krieg aus, Deutschland wird vaterlos, junge Menschen verlieren ihre Kindheit – und werden zu Adlern ausgebildet, bereit für den Kriegseinsatz.

Das alles beobachtet in Viktor Niedermayers Roman «Finsterland» ein Ich-Erzähler. Sein Blick ist genau und sorgt für jede Menge Zeitkolorit auf den 200 Romanseiten: Liedtexte, Kleidung, Dialekt, Funktionsweise von Maschinen etc. Einem jungen Schriftsteller müsste man lobend eine «beachtliche Rechercheleistung» attestieren, Viktor Niedermayer aber, der hier als 88-Jähriger sein autobiographisch gefärbtes Debüt vorlegt, kann ausserdem direkt aus dem Gedächtnis schöpfen. «Finsterland» ist also vor allen Dingen das Ergebnis einer immensen sprachlichen Verdichtung der Erfahrungswelt eines Menschen. Der Ton wird durchgehalten, passt sich dabei aber dem Lebensalter des Erzählers an. Die eingangs zitierten, kindlichen Diminutive verschwinden denn auch rascher, als einem lieb sein kann, Legionen an Figuren ziehen vorbei – meistens sind sie am Ende ihrer Szenen verschwunden oder tot. Diese Szenen entwickeln sich chronologisch, stehen aber weitgehend unverbunden nebeneinander: der Kriegseinsatz und die Misswahl, die Zeit bei den Gebirgsjägern und Aushilfsjahre bei einem Autohändler.

Diese Erzählanlage ist konsequent, sie verschiebt aber zentrale Fragen in die Zwischenzeilen des Nichtgesagten: Warum bleibt dem Ich-Erzähler die nationalsozialistische Bewegung fremd, selbst wenn ihn einige Aspekte faszinieren? Warum rennen andere blind ins Verderben und glauben noch an den «Endsieg», wenn alles um sie herum in Schutt und Asche liegt? Müssten Erklärungsansätze für diese bis heute virulenten Fragen nicht zumindest angedeutet werden? Die Liste liesse sich fortsetzen, aber: der Roman gibt keine direkten Antworten, der Ich-Erzähler ist zwar immer mittendrin – aber trotzdem seltsam teilnahmslos. Die Figuren erscheinen als Material, sind Körper und kaum Geist – auch diese Verweigerung allen Psychologisierens mag ein durchaus realistisches Abbild dieser Zeit sein, denkt man noch, dann bricht die Erzählung mit den Worten ab: «Du wirst schon noch sehen.» Das Sehenlernen nach dunkler Zeit, es wird in diesem Roman nur angedeutet. Vielleicht ist das nicht ganz befriedigend, eines ist es aber: konsequent. 

Viktor Niedermayer: Finsterland. Zürich: Nagel & Kimche, 2015.

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