Zwei Sprachen, ein Werk
Eine Hommage an Marion Graf zur Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung im Rahmen der Schweizer Literaturpreise 2020.
Ende der Neunzigerjahre fotografierte Yvonne Böhler den Schriftsteller Markus Werner in seinem Opfertshofer Garten. Die Fotografin platzierte den Autor halbwegs abgewandt, leicht unscharf und über die linke Schulter angeschnitten, am unteren Bildrand. Dahinter steht seine Übersetzerin, sie ist – für einmal klar und deutlich und als Ganzfigur – erkenn- und wahrnehmbar, es ist Marion Graf. Sie trägt einen knöchellangen, weiten Wintermantel und schaut milde aus diesem «sprechenden» Arrangement heraus, schaut über es hinaus. Fast erinnert sie uns ein wenig an eine griechische Kore, der man das Gebälk zum Tragen, nein, seine Texte gerne zum «Übertragen» anvertraut. Im Hintergrund liegt noch ein Häufchen Brennholz parat, ein Baum ohne Blätter steht im dürren Gras. Es ist kalt in Opfertshofen, ein grauer Tag. Und der Roman und dessen Übersetzung, die es durch die Fotografin für den geplanten Band «Lʼécrivain et son traducteur» sozusagen zwiesprachig ins Bild zu setzen gilt – Sie haben es natürlich längst erraten –, dieser Roman heisst einerseits «Die kalte Schulter» und andererseits «Le Dos tourné».
Während sich das deutsche Wortbild «Die kalte Schulter» für dieses Seelenlandschäftchen also auf die Meteorologie abstützt, dreht sich das raisonablere Französisch ohne Wetter und sozusagen auf dem linken Absatz einfach von uns weg, schneidend: «Le Dos tourné». – Die Fotografin aber hat, wie das tapfere Schneiderlein im Märchen, auf einen Schlag beides ins Bild zu setzen vermocht:
Darum beneiden wir Schreiberinnen und Schreiber die bildenden Künste ja zuweilen so sehr, dass ihnen (mit ein bisschen Wetterglück) solche Handstreiche immer wieder gelingen, während wir uns schon beim Setzen der Sätze und Marion Graf beim Übersetzen zumeist nicht für «das Weggli und den Batzen», sondern nur für die eine, die eigen-richtige Prägung in unserer jeweiligen Sprache entscheiden müssen, was, wie wir wissen, nicht immer ganz leichte Arbeit ist.
Und da wir es mit dem Opfertshofer Winter jetzt schon so kalt haben angehen lassen, möchte ich es gerne noch ein wenig weiter treiben, schneewärts nämlich, und zwar mit einem kleinen Gedicht, das Marion Graf von mir übersetzt hat. Es trägt den Titel «Persönliches Arrangement».
Ich reise nach Neapel,
um das Nordlicht
zu sehen.Wer Ohren hat, hört
die Eisvögel singen
überall.
Was hier auffalle, sei der Gegensatz Nord-Süd, es kämen Eisvögel vor, die ja keine ausgesprochenen Nordvögel seien, in ihrem Namen aber die «Kälte» mit sich trügen, erklärte Marion Graf kurz nach Erscheinen unseres zweisprachigen Gedichtbandes, «Déplacement – Kurze Durchsage», in einem Interview zu ihrer Arbeit. – Der Eisvogel heisse auf Französisch «martin pêcheur», was nun aber ganz und gar nichts mit dem ursprünglichen Kontext im deutschen Gedicht zu tun habe – doch weit und breit kein anderer Vogel, der sich zum Übersetzen angeboten hätte. Da sei sie während ihrer langen, vergeblichen Suche sozusagen am Wegrand unverhofft auf eine Blume gestossen, den «Gemeinen Schneeball» nämlich. – Ich erinnere mich noch gut an unser Telefonat, während dem mir Marion Graf ihre schöne Trouvaille vortrug. – Dabei hatten wir das Gedicht, ohne diese wunderbare Wendung, fürs Französische schon fast verloren gegeben. – Von der Fauna zur Flora also. Vom Ohr zum Aug, ein kühner und in sich absolut richtiger Schritt. Unser Arrangement individuel war gerettet und geht jetzt so:
Je vais à Naples
pour l’aurore
boréale.Qui a des yeux pour voir voit
fleurir les boules de neige
partout.
Wir bleiben in der gleichen Welt – aber mit einem anderen Bild: So geht das Übersetzen vor sich, diese Kunst des Über- und Neusetzens, nein, des «Entsprechens». Denn das ist es, was Marion Graf à fond beherrscht und wofür sie noch vor dem Prix André Gide schon 2006 mit dem Prix lémanique ausgezeichnet wurde. – Nach eingehender Überprüfung meiner damaligen Laudatio für Marion Graf, an die ich mich für meine heutige kleine Hommage ganz explizit und eng halte, war mir klar, dass es daran bis heute nichts zu ändern gibt. Was steht, steht und entspricht der Arbeit dieser umsichtigen Übersetzerin nach wie vor aufs Haar: Noch immer und unabdingbar geht es bei ihrem literarischen Übersetzen und «Segel setzen» nämlich in erster Linie darum, genaue Zwiesprache zu halten. – Und kniffligerweise dreht es sich dabei ja stets um zwei Sprachen, jedoch um ein Werk, das es auf allen Wegen und Umwegen nie aus den Augen zu verlieren gilt.
Liebe Marion, unter deinem strengen Mittelscheitel im schwarzen Haar geht eine Abenteurerin. Du setzest uns über von hier nach dort, scheust das offene Gewässer nicht und nicht die fremden Ufer. Immer wieder suchst du nach neuen Passagen, legst neue Verbindungswege an zwischen den Menschen und ihren anderen Sprachen:
Sie sprechen – zusammen mit deinen ins Französische gebrachten Autorinnen und Autoren wie C.F. Meyer, Robert Walser, Erika Burkart, Franz Hohler, Erika Pedretti, Aglaja Veteranyi, Zsuzsanna Gahse, Markus Werner oder dem Schreibenden – ganz und gar für dich.
Umsicht, Wachheit und Lauterkeit zeichnen dich als Übersetzerin, ja, und auch als Menschen aus, darum siehst du so gut «hindurch»: von Moskau bis Montréal. Von Opfertshofen bis Puidoux-Chexbres oder Unterkulm. Ich gratuliere dir zum wohlverdienten Preis.
Der vorliegende Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung der Laudatio, die der Autor im Jahr 2006 zum Gewinn des Prix lémanique de la traduction auf Marion Graf hielt. Der Urtext findet sich im vierten Band von Merz› Werkausgabe (Haymon, 2013).