Adolf Muschg:
«Der weisse Freitag – Erzählung vom Entgegenkommen»
Adolf Muschgs neueste Erzählung «Der weisse Freitag» handelt von einer Reise zu sich selbst, und zwar auf zwei Ebenen, die sich vage im gemeinsamen Handlungsort berühren, der Schweiz. Zum einen ist es Goethes zweite Schweizer Reise von 1779 mit ihrem Höhepunkt, einer durchaus gefährlichen Wanderung über die Furka im November durch Neuschnee. Für Muschg ist sie ein zentraler Einschnitt in Goethes Leben, macht ihn zum Olympier. Zum anderen aber erzählt Muschg von sich selbst, und da sehen die Prüfungen etwas anders aus: ein Treppensturz ist es hier, ein lädiertes Knie samt Krankenhausaufenthalt und eine Krebserkrankung. Was den kraftstrotzenden Olympier und den kränkelnden Schweizer darüber hinaus verbindet, wird lange in der Schwebe gehalten.
Zunächst ist die Erzählung eine ungetrübte Begegnung zweier Wahlverwandter. Muschg ist ja ein ausgewiesener Goethe-Kenner, wie sein Band «Der Schein trügt nicht. Über Goethe» von 2004 zeigte. Im gleichen Jahr unternahm der Autor im Essay «Von einem, der auszog, leben zu lernen» bereits eine Ausdeutung jener zweiten von drei Schweizer Reisen Goethes. So weit nichts Neues.
Trotzdem entzückt es, wie meisterhaft Muschg Goethe transportiert, wenn er etwa von beschreibender Prosa plötzlich in einen Dialog der Schweiz-Reisenden wechselt. Und virtuos wird es, wenn er in Goethes Schilderung seiner Dienstherrin, der Weimarer Herzogin Anna Amalia, die sich Sorgen um ihren unverheirateten Sohn macht, mitten im Sprachfluss in die Ich-Form wechselt: «Unberührt ist er gewiss nicht mehr: Da wird der schöne Wedel schon davor gewesen sein. Ich soll den zum Forstmeister machen – für den Wald ist er ganz der Rechte. Aber die Jagd macht noch keinen Fürsten.»
Doch es bleibt das Rätsel dieser beiden scheinbar inkongruenten Ebenen: Während Muschg sein Leben als fernöstlich anmutende Collage aus autobiographischen Noten und kurzen architektonischen Schilderungen seines «Frauenplans» in Männedorf präsentiert, greift er bei Goethe ins epische Fach, schildert diesen in seinem prekären Zustand vor der Schweizer Reise von 1779, als einen Günstling mit beachtlicher Ämterfülle am Weimarer Hof, stets nah am Burn-out, wie im ausgeglichenen Zustand danach, als einen dichtenden Minister, der sich nun in seine Rollen eingefunden hat. Hier im Psychologischen liegt der Hase im Pfeffer: Es ist nicht die Bergkulisse, die hängenbleibt, nicht die alpinen Abenteuer oder höfischen Ränkespiele sind es, sondern jener innere Schritt, den Goethe (und mit ihm Muschg) bei der Furka-Überquerung macht, bei dieser lebensbedrohlichen Episode, nach der es kein Zurück mehr gibt. Die neue «symbolische Betrachtung der eigenen Tätigkeit» ist das Thema dieser Erzählung. Es geht also mitnichten um Wohnbehaglichkeit bei Muschg gegen Outdoor-Abenteuer bei Goethe, sondern bei beiden Wahlverwandten zählt der grundlegend veränderte Blick auf die Dinge, der schicksalhaft erworben sein wollte. Wer auch darin Anklänge an fernöstliche Denkweisen entdecken sollte, wird gar nicht so falsch liegen.
Adolf Muschg: Der weisse Freitag – Erzählung vom Entgegenkommen. München: C. H. Beck, 2017.