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Samt Zapfsäule davoneilen

Samt Zapfsäule davoneilen

Arno Camenisch: Goldene Jahre.

 

«Seit 1969 gibt es uns bereits», sagt die Margrit zur Rosa-Maria, währenddessen sie die Leuchtreklame über ihrem Kiosk betrachten. Schon fünfzig Jahre. Nein, einundfünfzig. Ein halbes Jahrhundert. Wo das nur hin ist so gschwind.

Dabei sind sie doch gerade erst gestartet. Und das war vielleicht ein Start, als sie ihren Kiosk eröffnet haben. Mit Zapfsäule und Leuchtreklame. Der erste im Tal. Da waren die anderen vielleicht neidisch, dass sie nicht selbst auf die Idee gekommen sind. Aber so ist es eben im Leben. Auf das Timing kommt es an. Und dass das nicht jedem liegt, das haben Margrit und Rosa-Maria schon zur Genüge erlebt. Der Valentin zum Beispiel. Der hatte das Gespüri für den falschen Moment. Bei der Mondlandung war er draussen auf der Toilette, und seinem geliebten Vreni einen Heiratsantrag zu machen, das hat er irgendwie auch verpasst. Und ehe er sich versah, war sie schon weg. Oh, jägeri. Andere hingegen sind richtige Timing-Spezialisten. Der Franz zum Beispiel. Dem drückte es immer dann auf die Blase, wenn die Gruppe gerade zahlen musste.

Manchmal ist man eben zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ja, ja. Dafür muss man aber auch etwas Glück haben. Und alle rennen ihm nach, diesem Glück, haben es eilig, es zu finden, und würden am liebsten losfahren, wenn der Schlauch noch im Tank steckt. Diese Jufli.

Aber die Margrit und die Rosa-Maria, die lassen sich nicht stressen. Na, nai. Soll rennen, wer will. Die Welt da draussen, die kann toben und stürmen, das macht ihnen nichts aus.

So sitzen die beiden vor ihrem Kiosk auf ihren Spaghettistühlen unter dem Sonnenschirm im weissen Ständer, reden, schweigen, schweifen ab. Erinnern sich an die Tour de ­Suisse, als es einen Fahrer vor ihrem Kiosk auf den Latz gehauen hat. Eddie Merz oder Merks hiess der. Erinnern sich an die Nacht, als Rosa-Maria nach einem Grappa zu viel und samt Federboa über die Türe in das Cabriolet kletterte, Margrit das Radio aufdrehte und mit ihr davonraste. Wie im Film, der Himmel voller Sterne.

Wie so oft bei Camenisch wird man vom ­Gesprächsfluss der Protagonistinnen fortgetragen. Wie im Wasser kann man sich treiben lassen: Von den langen Sätzen, den skurrilen Anekdoten, den fragmentarischen Erzählungen, den Sprüngen vom einen Gedanken zum nächsten. Und – wie im Wasser – möchte man auch hier ewig verweilen, in Erinnerungen schwelgen an das Erlebte, das erst schön wird, wenn es einmal vergangen ist. Ach, diese goldenen Jahre. Wo ist die Zeit bloss hin? Und ehe man sich versieht, ist auch das Büchlein schon zu Ende – auf einen Klapf.


Arno Camenisch: Goldene Jahre.
Schupfart: Engeler-Verlag, 2020.

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