Am Ende aller Tage
Wolfgang Herrndorf, Autor von «Tschick» und «Sand», hat seine Leser teilhaben lassen am Austrocknen des Lebenswillens. Das war kein kontinuierlicher Prozess, das war eine Verschwindensevolution, so springend wie die erforschte Originalversion davon. Mich hat die Twitternachricht von seiner Kollegin und Freundin Kathrin Passig über seinen Selbstmord richtiggehend erwischt. Herrndorf war Gehirntumorbesitzer, Romanautor, Um-sein-Leben-Blogger, Wortfeldergrossgrundbesitzer und Thema eines Sommergespräches zwischen einer wunderbaren Kinderbuchautorin und mir in einem Berliner Biergarten, als er noch am Leben war, wir aber unsicher waren, «ob er’s noch ist»: am Leben. Wahrscheinlich war an diesem Sommertag sein Wunsch seinem Körper längst Befehl: die Abschaltung des Selbst hatte begonnen. Es ist typisch für mich, dass ich aus lauter Verlegenheit hier einsteige mit dem Satz: Max, der Held im Film «Elysium» von Neill Blomkamp, ist auch so einer.
Ist er natürlich nicht. Ein fiktionaler Charakter ist er und dazu ein Mann, der in einer Elendsversion der Erde im Jahr 2159 lebt, der nach einem Arbeitsunfall, bei dem er mit einer tödlichen Strahlendosis verseucht wird, dann nur noch fünf Tage zu leben hat, die er nach Kräften dafür einsetzt, nach Elysium ins All geschleust zu werden, weil man dort mit Hilfe von Medi-Banken (dem Aussehen nach Heimsolarien mit der Lizenz zur Komplettheilung binnen Sekunden) alles wieder in Ordnung bringen kann. «Ich will nicht sterben», sagt Max einmal kurz nach dem Unfall. Das ist seine Motivation, seine Aktivierung. Weil er nichts zu verlieren hat, setzt er seine fünf restlichen prognostizierten Lebenstage, seinen Körper, seinen Kopf, der als Datenträger in dieser Zukunftsvision erfreulicherweise noch etwas zählt, aber auch seinen Traum ein und wird zum Nilpferd. (Das verstehen Sie wirklich nur, wenn Sie sich den Film einmal ansehen.) Blood & carnage inklusive, denn so leicht lassen Elysianer sich ihr High-Tech-Lampedusa nicht überrennen von wilden Erdlingen, die einfach so in der schönen, neuen Welt landen und sich Gesundheit, ein besseres Leben für sich und ihre Kinder, Aufnahme und Perspektive wünschen. Eine Verteidigungsministerin, eiskalt wie gegeneinander klirrende Eiswürfel in einem Glas, will währenddessen gegen den ihr viel zu laxen Präsidenten putschen.
Diese Handlungsstränge sind verwoben und so bekommt Max’ Selbst(mord)mission bald eine welthaltigere Aussage. Für alle, die nicht sterben wollen, sondern leben, und das besser als auf der Müllhalde Erde, wird er zum Krieger mit Exo-Skelett. Ach hätten doch alle Menschen solche Skelette, Panzerungen, Verstrebungen mechanischer Art, die von aussen ihre Körper stützen, um vieles verstärken und ermächtigen, ihren Kopf stolz hochzurecken. Dem Leben immer entgegen und wenn dem Tod, dann nach einem fairen Kampf. Weh uns, dass wir von solcher Art nicht sind, eher zart, fallend und grausam gegen andere und uns selbst.
Blogeintrag von Wolfgang Herrndorf am 24.9.2012: «Jetzt liege ich im Gras und spüre ich jeden Halm.»