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Sandra Hughes: «Fallen»

Sandra Hughes:
«Fallen»

 

Willkommen bei den Gerbers. Sind sie nicht die perfekte Kleinfamilie? Haus mit Garten auf dem Dorfe, in einer Strasse mit vielen Kindern und hilfsbereiten Nachbarn, Vater Jan und Mutter Vera sind berufstätig, der fünfzehnjährige Sohn Luca ist eigensinnig, aber pflegeleicht. Dieses Leben könnte so schön sein… aber es bietet vor allem eine stattliche Fallhöhe für die hypersensible Vera Gerber, deren Sturz die gebürtige Luzernerin Sandra Hughes in ihrem aktuellen Roman schildert. Gleich auf der ersten Seite des treffend betitelten «Fallen» erlebt der Leser die Hauptfigur in ihrem verzweifelten Ringen um Aufmerksamkeit. Sie hastet durchs Haus, der Sohn antwortet nicht auf ihre SMS, der Ehemann – «sie wusste immer, in welchem Zimmer er sich befand» – ist nicht auffindbar. Die Glucke kann ihre Schwingen nicht mehr dicht und deckend über ihre Hähne breiten: Jan raucht im Garten, ohne zu fragen, Luca braust mit dem Moped durchs Dorf. Welch ein Kontrollverlust, wenn sich die Allerliebsten nicht überwachen lassen, sich unbeeindruckt verziehen.

In ihrem vierten Roman findet Hughes für die ruhelos «Übermuttivierte» den passenden Erzählton: Im ständigen Wechsel von Innensicht und Aussensicht spiegelt der elliptische Satzbau die übersteigerte Anspannung Vera Gerbers wider. Das macht zunächst Eindruck, selbiger erschöpft sich aber rasch. Dann überbringt ihr die Polizei die Nachricht, dass ihr Sohn zusammengebrochen sei: Hirnschlag, querschnittsgelähmt. Und Vera fällt weiter. Und fällt. Und fällt. Ihr Loch hat keinen Rand, bietet nirgends Halt, hat keinen Boden. Sie fällt. Immer weiter. Und fällt. Sollten Sie als Leser dieser Zeilen nun denken; das habe ich kapiert, wie geht es denn weiter, muss ich Ihnen sagen: Sie fällt.

Ihrem Mann Jan geht es den Umständen entsprechend, der Sohn Luca arbeitet sich mit mannigfaltiger professioneller Hilfe zurück ins Leben. Nur Vera fällt immer noch, sie wuselt und werkelt, wütet und winselt und fällt. Luca ist der Patient, aber Vera geht zugrunde. Das wäre eine gelungene Konstellation (siehe Christian Hallers «Im Park» von 2008), wenn die Geschichte eine feine Spannung gewänne durch Veras schrittweises Herauskämpfen aus der inneren Lähmung, durch die Wiederentdeckung der Selbständigkeit, durch ihre versuchte Rückkehr in ein eigenes Leben. Aber Vera fällt. Sie fällt im gleichen Tempo, erzählt im gleichen Tonfall. Sie fällt und wird nie aufprallen, sich aufrichten oder verrecken, verzweifeln oder kämpfen. Und der Leser? Er lässt sie ohne Anteilnahme fallen, denn die Figur Vera Gerber hat am Ende so viel Leib und Seele wie ein feucht geheultes Taschentuch. Für eine Kurzgeschichte mag diese Statur reichen, im Roman aber fällt sie durch.

Sandra Hughes: Fallen. Zürich: Dörlemann, 2016.

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