Anita Siegfried:
«Steigende Pegel»
Jahrhundertprojekt oder Spinnerei? 1908 verkündet Pietro Caminada, ein italienischer Ingenieur mit Schweizer Wurzeln, einen unglaublichen Plan. Er will Nordsee und Mittelmeer mit einem 600 Kilometer langen Kanal verbinden – mitten durch die Alpen: von Genua nach Basel, in der Mitte eine riesige Schleusentreppe und ganz oben ein 15 Kilometer langer Scheiteltunnel am Splügen. Die 1250 Meter Höhendifferenz und die zurückzulegende Distanz sollen die Schiffe in aneinandergereihten, geneigten Doppelschleusen allein durch die Kraft des Wassers überwinden. Aber mal halb lang: Hat Wasser nicht die Eigenschaft, dem Weg des geringsten Widerstands zu folgen? Oder wie ein italienischer Regierungsbeamter zu Caminada sagt: «Sie wollen also offenbar das Wasser aufwärtsfliessen lassen. Verehrtester, das kann nicht einmal der liebe Gott!» Das ist nicht die einzige Frage, die von Anita Siegfrieds neuem Buch aufgeworfen wird.
Doch Caminada hätte das Unmögliche vermutlich möglich gemacht: In Rio de Janeiro hat er zuvor den neuen Hafen geplant, ein historisches Aquädukt zum Tramtrassee umgenutzt – es erfreut Touristen bis heute – und die ersten Skizzen für die neue Hauptstadt Brasilia gezeichnet. Über den von ihm geplanten transalpinen Kanal berichtete seinerzeit selbst die «New York Times». Der Alpenkanal scheiterte dennoch – weniger an seiner Unmachbarkeit als vielmehr an den Kosten und der Ungunst der Stunde: zwei Weltkriege, Wirtschaftskrise; dann die Eisenbahn und später das Auto drängten die Schifffahrt zurück.
Was der Welt vorenthalten blieb, erleben wir in «Steigende Pegel»: Eine Fahrt über den transalpinen Kanal. Es ist das Jahr 1933, Mussolini, Fronarbeit und das Geld eines futuristischen Konsortiums haben den Bau ermöglicht. Mit an Bord: 450 Tonnen italienisches Exportgut und zwei ungleiche Kanalschiffer: Sergio, der alte Hase, ein Alkoholiker und Duce-Fan, und Riccio, ein schmächtiger Jüngling auf seiner ersten Fahrt, schwankend zwischen Faszination und Angst. Ja, die Figuren bleiben leider etwas holzschnittartig, aber der eigentliche Protagonist dieser Geschichte ist ohnehin der Kanal, die Schiffer sorgen bloss dafür, dass die bergige Überfahrt glatt läuft.
Anita Siegfried erzählt in einer nüchternen, unmittelbaren Sprache, die das alpine Schifffahrtswesen vor dem inneren Auge plastisch entstehen lässt. Die fiktive Alpenüberquerung spiegelt Siegfried mit biografischen Kapiteln, in denen Pietro Caminada wie besessen tüftelt, das Berggelände erkundet und Gesundheit und Familie für seinen Traum aufs Spiel setzt. Bereichert wird das Buch durch eingestreute Bilder, Pläne, Berechnungen, Patente und Modelle, die die Autorin im Nachlass Caminadas ausgegraben hat. Und genau das macht dieses Buch lesenswert: Die Art, wie die Autorin Fiktion und sorgfältig recherchierte biografische Elemente verwebt und historisch plausibel einordnet, erzeugt das Gefühl, dieser Kanal wäre wirklich möglich gewesen.
Anita Siegfried: Steigende Pegel. Roman. Zürich: bilgerverlag, 2016.