Henri Roorda:
«Mein Selbstmord»
Der 1870 geborene Henri Roorda ist auf der deutschsprachigen Seite des Röstigrabens wohl so gut wie unbekannt. Allenfalls kennen Spezialisten die Traktate des Lausanner Schriftstellers zur antiautoritären Pädagogik – dabei war dieser Sohn aus Holland eingewanderter Eltern einer der hintergründigsten Humoristen, die je in unserem Land geschrieben haben. Davon zeugt auch sein allerletztes Werk, das nun in Yla M. von Dachs eleganter Übersetzung endlich auf Deutsch vorliegt. Es trifft darin Unvereinbares aufeinander: ein von Pointen sprühender Essay und das Dokument einer persönlichen Tragödie. Denn die Schrift ist betitelt mit «Mein Selbstmord» und nichts anderes als der lange Abschiedsbrief des Autors, ehe er sich am 7. November 1925 das Leben nahm. Roorda notiert das Protokoll einer schonungslosen Selbsterforschung weniger psychologischer als philosophischer Natur; der Leser hört hier den Nachhall Montaignes und Pascals. Nach dem Zwiespalt von Individuum und Gesellschaft fragt der Autor, zwischen Glücksanspruch und Freiheitsdurst des einzelnen einerseits, den Erwartungen der Gesellschaft an eine nützliche Existenz anderseits. Er anerkennt sein eigenes Verlangen nach Lebensgenuss (seine Formel dafür hat etwas zutiefst Waadtländisches: «Ich mag Rehrücken und alten Burgunder. Und ich weiss, was die Poesie, die Musik und das Lächeln einer Frau für einen Reiz haben können») und er benennt die Frustration des Alltags, die den Menschen erkalten lässt: «Unser Herz ist nicht die perfekte Thermosflasche, die bis zum Schluss, ohne jeden Verlust, die Glut unserer Jugend zu bewahren vermöchte.» Roorda, den Anarchisten zugeneigt, hält den Widerspruch für unauflöslich, es sei denn durch Selbstbetrug: «Wäre das gesellschaftliche Leben möglich ohne die Lüge? Nein.» Sich selber sieht er dabei eher als warnendes Beispiel und rät zu einem fröhlichen Pessimismus – und tatsächlich, wann hat ein Verzweifelnder seinen Lesern je so viel Heiteres, Kluges und sogar Mutmachendes mitgegeben?
Henri Roorda: Mein Selbstmord. Biel: die brotsuppe, 2010.