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Lotte Schwarz: «Die Brille des Nissim Nachtgeist»

Lotte Schwarz: «Die Brille des Nissim Nachtgeist»

  

Mit dieser knappen, aber prägnanten Formel charakterisiert Lisette das Schicksal der verfolgten Menschen, denen sie teils vor, aber vor allem nach ihrem Eintreffen in Zürich im Sommer 1934 begegnete. Lisette ist das literarische Alter Ego Lotte Schwarzʼ in diesem Romanerstling, der 47 Jahre nach dem Tod der Autorin erstmals veröffentlicht wurde.

Schwarz, 1910 geboren, wuchs in einem sozialdemokratischen Elternhaus in Hamburg auf. Trotz guter Noten musste sie nach der Schule direkt als Dienstmädchen arbeiten, suchte aber nach anderen Wegen. Über die Frauenrechtlerinnen, die ihr auch den beruflichen Wechsel zur Bibliothekarin ermöglichten, und die «Kommunistische Jugend» gelangte sie zu den «Roten Kämpfern». Wegen dieser Mitgliedschaft verlor sie 1933 ihre Stelle und emigrierte in die Schweiz.

Lotte respektive Lisette trifft am 1. Juli 1934 in Zürich ein und fängt tags darauf als Zimmermädchen in der Emigrantenpension Comi an. Diese wird vom russisch-jüdischen Ehepaar Paksmann geführt, das selbst 1910 aus Russland geflohen ist. Lisette berichtet von sich und ihrer Arbeit, beschreibt den Alltag in diesem Hafen für Entwurzelte und nimmt die Schicksalsfäden der Bewohner auf, so wie sie die weissen Fäden im Zimmer des Jurastudenten Nissim Nachtgeist aufsammelt (der dort illegal Mäntel näht). Dieser Alltag folgt dem Rhythmus «Ankommen-Warten-Weiterreisen». Doch nun zwingen Krieg und geschlossene Grenzen zum Bleiben. Was zunächst als Glück erscheint, schlägt zusehends ins Gegenteil um: die Pensionäre fühlen sich wie auf einer «Arche Noah», gestrandet am Fusse des Zürichbergs.

Schwarzʼ Stil ist lakonisch, nüchtern, ohne verklärendes Pathos, wobei es durchaus einzelne poetische Bilder der Empathie gibt: «Die Comi, diese wilde Blume im Garten Helve­tias…» Auch Wertungen werden nur behutsam gesetzt: «Das gleiche Land, das Winkelried hervorgebracht hatte,… wies jüdische Flüchtlinge an seinen Grenzen zurück und brachte ein Ideal ins Wanken.» Von diesen sanften Wellen des Erzählflusses lässt sich der Leser gerne tragen – bis er im Schlusskapitel in einen turbulenten Strudel gerät: «Die weissen Fäden beleben sich», Lisette halluziniert. Alle Comianer fliegen, begleitet von Helvetia, zur Venus, denn nur dort scheint das ersehnte glücklichere Leben möglich. Und dann richtet Frau Paksmann die alles entscheidende Frage an Helvetia: «Warum verweigerst du dich ihnen?» – «Warum soll ich es büssen, wenn bei euch in euren Ländern Unordnung ist? Warum?», entgegnet diese.

Lotte Schwarzʼ erzählerisch eindrucksvoller Roman ist auch heute noch unbedingt lesenswert. Nicht zuletzt erweist sich das Buch als aufschlussreiche Ergänzung zu Eveline Haslers grossem, ebenfalls im Zürich jener Zeit spielendem Roman «Stürmische Jahre», indem es diese aus einer ganz anderen Perspektive beschreibt.

Lotte Schwarz: Die Brille des Nissim Nachtgeist. Zürich: Limmat, 2018. 

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