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Hansjörg Schertenleib: «JAWAKA»

Hansjörg Schertenleib:
«JAWAKA»

 

Jubelschrei, man müsste ihn nach der Lektüre von Hansjörg Schertenleibs Roman über die Dächer dieser Welt rufen – zumindest über die Dächer der eigenen Nachbarschaft. Denn dieses Buch wagt viel und fordert viel, aber weniger dürfte es nicht sein und mehr gewiss auch nicht. Um was geht’s? Ein Schriftsteller hat sich in der nahen Zukunft nach Kapstadt zurückgezogen, um dort einen Roman zu überarbeiten: eine Endzeiterzählung, die vom Leben in einer postapokalyptischen Schweiz erzählt. Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr, die überlebenden Menschen haben sich in Enklaven zu kleinen Gesellschaftsformationen zusammengeschlossen, mit jeweils eigenen Gesetzen und Ritualen. Da die Arbeit an dem Text stockt, wendet sich der Schriftsteller parallel einem anderen Manuskript zu, das um einen alternden Bildhauer in Irland kreist. Dieser Bildhauer erhält die Nachricht, als Folge einer kurzen Affäre von vor über 20 Jahren einen Sohn zu haben. Das setzt etwas in Bewegung, Fragen kommen auf, nach Verantwortung, nach Rückzug, nach dem Wert der eigenen Biographie. Der Clou ist nun, dass diese beiden Manuskripte nicht einfach erwähnt werden, sondern als gleichwertige Erzählstränge neben der rahmenden Kapstadt-Geschichte mitlaufen, kunstvoll miteinander verwoben und dennoch leicht durch verschiedene Kapitelkennzeichnungen und Erzählformen unterscheidbar.

Was also haben diese drei Geschichten genau miteinander zu tun? Viel, denn sie zeigen eine Welt kurz vor der Apokalypse (Kapstadt), eine Welt nach der «Grossen Transformation» (ehemalige Schweiz um 2060) sowie ein gegenwärtiges Irland, das als Refugium für einen Künstler dient, der im Grunde nur für sich sein möchte und erkennen muss, dass dies gar nicht möglich ist. Wo versteckt sich in diesen drei Erzählebenen eigentlich die Dystopie und wo die Utopie, fragt man sich und lässt sich von allen drei Strängen gleichermassen fesseln.

«JAWAKA» stellt beinahe beiläufig viele wichtige Fragen. Etwa: was bedeutet Kunst, was bedeuten Künstler in einer Welt kurz vor einer grossen Menschheitsdämmerung? Und: was bedeuten sie danach? Was bedeutet es, zu handeln statt die Handlung immer nur zu beschreiben? Der Roman gibt darauf keine Antworten. Er findet aber auf der Kapstadt-Ebene eine radikale Lösung, die einem – auch als Schriftsteller – dann doch den Atem verschlägt (mehr darf an dieser Stelle natürlich nicht gespoilert werden).

Klingt nach einer intellektuellen Herausforderung? Durchaus. Hansjörg Schertenleib aber ist als Erzähler vor allem auch ein grosser Sinnenfänger. Gerade das postapokalyptisch-winterliche Szenario ist in seiner Herbheit so exzellent gezeichnet, dass ich nun, gleich jetzt, Frank Zappas gleichnamiges Album auflegen, aufs Dach steigen und laut «JAWAKA!» rufen werde. Hören Sie mich?

Hansjörg Schertenleib: JAWAKA. Berlin: Aufbau, 2015.

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